Die Erfindung der Einsamkeit
sagt Iwan Karamasoff. «Was werde ich denn dann mit ihnen machen?» Und etwas später: «Ich will verzeihen und umarmen, ich will gar nicht, dass noch weiter gelitten werde. Und wenn die Leiden der Kinder nötig waren, um jene Leidenssumme zu erfüllen, die unumgänglich ist, um die Wahrheit zu erkaufen, so behaupte ich schon im Voraus, dass die ganze Wahrheit dann gar nicht wert ist eines solchen Kaufpreises!»
Täglich starrt es ihm ins Gesicht, unmöglich, den Blick davon zu wenden. Es sind die Tage, in denen Kambodscha zusammenbricht, und täglich ist es da, springt ihn aus der Zeitung an mit den unvermeidlichen Fotos des Todes: die ausgemergelten Kinder, die Erwachsenen, deren Augen ganz leer sind. Jim Harrison, zum Beispiel, ein Ingenieur aus Oxfam, der in seinem Tagebuch notiert: «Kleine Klinik bei Kilometer 7 besucht. Absolut keine Betäubungsmittel oder Medikamente – schwere Fälle von Unterernährung – sterben einfach, weil es nichts zu essen gibt … Die Hunderte von Kindern waren alle völlig entkräftet – in der ganzen Bevölkerung viele Hautkrankheiten, Kahlköpfigkeit, verfärbtes Haar und große Angst.» Oder später, als er beschreibt, was er bei seinem Besuch im 7. Januar-Krankenhaus in Phnom Penh gesehen hat: «… schreckliche Zustände – Kinder, die in verdreckten Betten Hungers sterben – keine Medikamente – kein Essen … Tbc und Hunger geben den Leuten ein Belsen-haftes Aussehen. In einer Abteilung ein dreizehnjähriger Junge, am Bett festgebunden, weil er verrückt geworden ist – viele Kinder jetzt Waisen – oder können ihre Familien nicht mehr finden – viele Leute, an denen man nervöse Zuckungen und Krämpfe bemerkt. Das Gesicht eines kleinen Jungen von achtzehn Monaten, völlig zerstört, Haut und Fleisch entzündet und verheert von einem schweren Fall von Kwashiorkor – die Augen voller Eiter, hing er in den Armen seiner fünf Jahre alten Schwester … Es fällt mir sehr schwer, dergleichen hinzunehmen – und Hunderttausende von Kambodschanern müssen heute in ähnlicher Lage sein.»
Zwei Wochen bevor er dies las, war A. mit seiner Freundin P. zum Essen gewesen. Sie arbeitete als Autorin und Redakteurin für eine große Wochenzeitschrift, und zufällig befasste sie sich gerade mit der «Kambodscha-Story». Fast alles, was die amerikanische und ausländische Presse über die dortigen Zustände berichtet hatte, war von ihr gelesen worden, und sie erzählte A. von einem Zeitungsartikel, der in North Carolina erschienen war – verfasst von einem amerikanischen Arzt, der als Freiwilliger in einem Flüchtlingslager im angrenzenden Thailand arbeitete. In seinem Artikel schilderte er, wie Rosalynn Carter, die Frau des amerikanischen Präsidenten, eines dieser Lager besucht hatte. A. konnte sich an die Fotos erinnern, die in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht worden waren (die First Lady mit einem kambodschanischen Kind im Arm, die First Lady im Gespräch mit Ärzten), und trotz allem, was er von Amerikas Verantwortung für die Zustände wusste, gegen die Mrs. Carter mit ihrem Besuch protestieren wollte, hatten ihn diese Bilder innerlich bewegt. Jedenfalls hatte Mrs. Carter das Lager besucht, in dem dieser amerikanische Arzt tätig war. Das Lager-Krankenhaus war ein Provisorium: ein Strohdach, ein paar Stützbalken; die Patienten lagen auf Matten auf dem Boden. Die Frau des Präsidenten kam mit einem Gefolge von Beamten, Reportern und Kameraleuten. Ein ganzer Schwarm von Leuten, die in dieses Krankenhaus einfielen: schwere Stiefel trampelten den Patienten auf die Hände, rissen ihnen die Infusionsschläuche aus den Armen, traten ihnen unabsichtlich in den Leib. Vielleicht war dieses Chaos vermeidbar, vielleicht auch nicht. Wie auch immer, nachdem die Besucher ihre Inspektion abgeschlossen hatten, trat der amerikanische Arzt mit einer Bitte an sie heran. Bitte, sagte er, könnten einige von Ihnen ein wenig Zeit erübrigen und dem Krankenhaus eine Blutspende machen? Selbst das Blut des gesündesten Kambodschaners ist zu dünn, als dass es sich verwenden ließe; uns sind die Vorräte ausgegangen. Aber die First Lady war bereits hinter ihrem Zeitplan zurück. Sie hatte an diesem Tag noch andere Orte auf dem Programm, musste noch andere leidende Menschen besichtigen. Das ließe sich einfach nicht machen, hieß es. Leider. Tut uns so leid. Und dann verschwanden die Besucher ebenso schnell, wie sie gekommen waren.
Da die Welt ein Monstrum ist. Da die
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