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Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe

Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe

Titel: Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa J. Smith
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KAPITEL EINS
    Die Dorfhexe lädt man nicht auf Partys ein. Da kann sie noch so schön sein. Das war das Grundproblem.
    Ist doch egal, dachte Kaitlyn. Ich brauche euch alle nicht.
    Sie saß in der Geschichtsstunde und hörte, wie Marcy Huang und Pam Sasseen eine Party für das kommende Wochenende planten. Sie kam nicht umhin, zuzuhören: Mr. Flynns sanfte, zaghafte Stimme hatte gegen das aufgeregte Flüstern der beiden keine Chance. Kait tat, als höre sie nichts. Eigentlich wollte sie nur weg von hier. Konnte sie aber nicht, also kritzelte sie in ihrem Geschichtsheft herum.
    In ihr tobten widersprüchliche Gefühle. Sie hasste Pam und Marcy, wünschte, sie wären tot oder hätten zumindest einen schrecklichen Unfall. Gleichzeitig schlummerte in ihr eine tiefe Sehnsucht. Wenn sie doch nur dabei sein könnte. Sie wollte ja gar nicht unbedingt das beliebteste Mädchen der Schule sein, das von allen bewundert wurde. Sie wäre schon zufrieden, wenn sie einen festen Platz in einer Mädchenclique hätte. Die anderen dürften auch gern kopfschüttelnd sagen: »Ach, unsere Kaitlyn, die ist
schon merkwürdig.« Das wäre völlig in Ordnung, solange sie hinzusetzten: »Aber, was würden wir ohne sie machen?«
    Doch das war ein reines Hirngespinst. Marcy dachte nicht im Traum daran, Kaitlyn zu ihrer Party einzuladen. Damit hätte sie völliges Neuland betreten – es kam ja schließlich niemand auf die Idee, dass sich Kaitlyn, das hübsche, aber unheimliche Mädchen mit den seltsamen Augen, überhaupt etwas aus Partys machte.
    Ist mir doch egal, dachte Kaitlyn, und damit schloss sich der Kreis. Es war ihr letztes Jahr an der Schule. Nur noch ein halbes Jahr, dann war die Highschool für sie zu Ende, und sie musste hoffentlich niemanden aus dem Ort je wiedersehen.
    Das war natürlich das nächste Problem. In einer Kleinstadt wie Thoroughfare ließ es sich nicht vermeiden, dass sie die anderen Schüler und deren Eltern sah, tagaus tagein, jahraus jahrein.
    Es gab kein Entkommen. Könnte sie aufs College gehen, würde vielleicht alles anders werden. Aber die Prüfung für das Kunststipendium hatte sie in den Sand gesetzt. Und dann war da ja auch noch ihr Vater. Er brauchte sie, und Geld war auch keins da. Dad brauchte sie. Also musste Kaitlyn aufs Junior College in Thoroughfare, da biss die Maus keinen Faden ab.

    Die kommenden Jahre breiteten sich erbarmungslos vor Kaitlyns innerem Auge aus: kalte Klassenzimmer, öde wie der Winter von Ohio, in denen sie bis in alle Ewigkeit den Mädchen bei der Planung von Partys zuhören würde, auf die sie nicht eingeladen wurde. Sie würde sich ausgeschlossen fühlen und sich sehnlichst wünschen, wirklich eine Hexe zu sein, damit sie die anderen wenigstens mit grässlichen Flüchen belegen könnte.
    Während sie so sinnierte, kritzelte Kaitlyn weiter vor sich hin. Oder besser gesagt, ihre Hand kritzelte, denn ihr Gehirn hatte damit absolut nichts zu tun. Als sie einen Blick ins Heft warf, sah sie, was sie da gezeichnet hatte.
    Es war ein Spinnennetz.
    Aber merkwürdig war, was sich unter dem Netz befand, so nah, dass es die Spinnweben fast berührte. Ein Augenpaar.
    Große runde Augen mit langen Wimpern. Bambi-Augen. Die Augen eines Kindes.
    Kaitlyn starrte die Zeichnung an, und plötzlich war ihr schwindelig, als stürze sie in einen Abgrund. Als öffne sich das Bild und ziehe sie hinein. Es war ein grässliches Gefühl und doch so vertraut. Denn es stellte sich jedes Mal ein, wenn sie so ein Bild zeichnete. Wegen solcher Bilder galt sie bei den anderen als Hexe.

    Denn solche Bilder wurden wahr.
    Mit einem Ruck riss sie sich los. Übelkeit und Beklemmung erfassten sie.
    Oh, bitte nicht, dachte sie. Nicht heute und nicht hier, nicht in der Schule. Das ist nur eine dumme Kritzelei. Sie hat nichts zu bedeuten.
    Kaitlyn wurde eiskalt. Sie wappnete sich innerlich gegen das, was da kommen mochte.
    Ein Kind. Sie hatte die Augen eines Kindes gezeichnet, also war ein Kind in Gefahr.
    Aber welches? Kait starrte auf die leere Fläche unter den Augen. In ihrer Hand spürte sie ein Zucken, fast schon ein Zerren. Ihre Finger wollten ihr zeigen, was dort noch hingehörte. Ein kleiner Halbkreis, zwei kleinere gebogene Linien – eine Stupsnase. Ein großer Kreis, ausgemalt, das war der Mund, aufgerissen vor Angst oder Erstaunen oder Schmerz. Eine breite gebogene Linie – ein rundliches Kinderkinn. Lange geringelte Linien als Haare. Dann ließ der Drang in Kaits Hand nach.
    Sie seufzte.
    Das war alles. Das

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