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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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Prolog

     
    Federn fielen vom Himmel.
    Gleich schwarzem Schnee schwebten sie auf eine alte Stadt namens Bath herab, taumelten über Dächer und sammelten sich in den Ecken und Winkeln der Gassen, bis alles dunkel und still war wie ein Wintertag.
    Die Einwohner der Stadt wunderten sich sehr. Manche schlossen sich in ihrem Keller ein. Andere eilten in die Kirche. Die meisten jedoch spannten ihre Regenschirme auf und widmeten sich weiter ihrem Tagewerk. Um vier Uhr nachmittags machte sich eine Gruppe von Vogelfängern, die ihre Käfige auf einem Karren hinter sich herzogen, auf den Weg nach Kentish Town. Sie waren die Letzten, die Bath so sahen, wie es gewesen war, die Letzten, die es verließen. Irgendwann in der Nacht des 23.   September erhob sich ein gewaltiger Lärm wie von Flügeln und Stimmen, von knarrenden Ästen und heulenden Winden, und dann, einen Herzschlag später, war Bath verschwunden. Zurück blieben, einsam und verlassen unter den Sternen, nur Ruinen.
    Gebrannt hatte nichts. Auch geschrien hatte niemand. Im Umkreis von fünf Wegstunden war alles wie ausgestorben, sodass niemand mit dem Gerichtsdiener sprechen konnte, der am nächsten Morgen auf seinem krummbeinigen Pferd angeritten kam. Jedenfalls kein Mensch.
    Ein Bauer fand ihn Stunden später – der Gerichtsdiener stand mitten auf einem zertrampelten Acker. Sein Pferd war fort, und seine Stiefel waren so abgetreten, als wäre er viele Tage lang zu Fuß unterwegs gewesen. »Kalt«, sagte er und starrte gedankenverloren ins Nichts. »Kalte Lippen und kalte Hände und so seltsam.«
    Damit nahmen die Gerüchte ihren Anfang. Ungeheuer krochen aus den Ruinen von Bath, so wurde geflüstert, knochendürre Unholde und hügelgroße Riesen. Auf den Bauernhöfen in der Umgebung nagelten die Leute Knoblauch an ihre Türpfosten und banden ihre geschlossenen Fensterläden mit roten Schleifen fest. Drei Tage nach der Zerstörung der Stadt kam eine Gruppe Wissenschaftler aus London herüber, um sich anzuschauen, was von Bath übrig war, und als Nächstes wurden sie in der Krone einer knorrigen Eiche aufgefunden, ihre Leichen weiß und blutleer und ihre Jacken voller Löcher, über und über von Zweigen durchbohrt. Daraufhin verbarrikadierten sich die Menschen hinter ihren Türen.
    Wochen verstrichen, und inzwischen rankten sich die Gerüchte um weit schlimmere Dinge: Kinder verschwanden aus ihren Betten, Hunde und Schafe wurden urplötzlich lahm, und in Wales gingen Leute in den Wald und kehrten nicht mehr zurück. In Swainswick hörte man eines Nachts eine Geige, und alle Frauen der Gemeinde verließen in ihren Nachthemden die Häuser und folgten ihrem Klang; keine von ihnen wurde je wiedergesehen.
    Im Parlament setzte sich die Meinung durch, hier könnte einer von Englands zahlreichen Feinden am Werk sein, und so wurde unverzüglich eine Abteilung Soldaten nach Bath entsandt. Die Brigade traf vor Ort ein, und wenngleich sie zwischen den umgestürzten Steinen weder Rebellen noch Franzosen fand, entdeckten die Männer schließlich ein abgewetztes Notizbuch, das einem der Wissenschaftler gehörte, die in der Eiche den Tod gefunden hatten. Nur wenige Seiten davon waren beschrieben, in offensichtlicher Eile, denn sie waren mit Tintenklecksen übersät, aber sie erregten Aufsehen im ganzen Land. Ihr Inhalt wurde in Form von Flugschriften veröffentlicht und war, etwas beschönigt, alsbald auch an den Zeitungsständen erhältlich. Fleischer lasen den Text, und Seidenweber lasen ihn; Schulkinder und Advokaten und Herzöge lasen ihn, und diejenigen, die nicht lesen konnten, ließen ihn sich vorlesen, während sie sich in kleinen und großen Gruppen zusammendrängten.
    Der erste Teil bestand lediglich aus Formeln und Diagrammen, und dazwischen eingestreut war sentimentales Geschwafel über jemanden namens Lizzy. Weiter hinten wurden die Beobachtungen des Wissenschaftlers jedoch immer interessanter. Er schrieb von den Federn, die auf Bath herabgefallen waren, und Vogelfedern seien das keine gewesen. Er schrieb von geheimnisvollen Fußspuren, geheimnisvollen Kratzern in der Erde. Schließlich schrieb er von einer langen, schemenhaften Landstraße, die sich in einer Wolke aus Schwefeldampf auflöste, und von Geschöpfen, wie sie bisher nur in Märchen vorgekommen waren. In dem Moment wussten alle mit Bestimmtheit, was sie schon die ganze Zeit befürchtet hatten: Die Kleinen Leute, das Verborgene Volk, die Sídhe, waren aus ihrer Welt in die unsere gelangt. Die Feen suchten

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