Die Erfindung der Einsamkeit
gegenüber, und jeder reflektiert das Licht des anderen. Beide sind Zauberwerke, real und phantastisch zugleich, und jeder existiert nur kraft der Existenz des anderen. Und es geht wahrhaftig um Leben und Tod. Der erste alte Mann ist auf der Suche nach seinem Sohn in den Garten gekommen; der Dämon ist in den Garten gekommen, um den zu töten, der unabsichtlich seinen Sohn getötet hat. Der alte Mann macht ihm klar, dass unsere Söhne stets unsichtbar sind. Es ist die simpelste aller Wahrheiten: Ein Leben gehört nur demjenigen, der es führt; das Leben selbst beansprucht die Lebenden; leben heißt leben lassen. Und am Ende retten diese drei Erzählungen dem Kaufmann das Leben.
So fängt Tausendundeine Nacht an. Am Ende des ganzen Berichts, nach Geschichte, Geschichte und noch mal Geschichte, steht ein konkretes Ergebnis, das die ganze unwandelbare Bedeutung eines Wunders hat. Schehrezâd hat dem König drei Söhne geboren. Auch hier ist die Moral deutlich. Eine Stimme, die spricht; eine Frauenstimme, die spricht; eine Stimme, die Geschichten von Leben und Tod erzählt, hat die Macht, Leben zu geben.
«‹Darf ich jetzt an deine Majestät einen Wunsch richten und mir von dir eine Gnade erbitten?›
‹Bitte, es soll dir gewährt sein, o Schehrezâd!›, erwiderte der König.
Da rief sie die Ammen und Eunuchen und sprach zu ihnen: ‹Bringet meine Kinder!›
Jene brachten die Kinder in Eile; es waren drei Knaben, einer von ihnen ging, der andere kroch, und der dritte lag an der Brust. Und als sie nun bei ihr waren, nahm sie alle drei und brachte sie vor den König, küsste den Boden vor ihm und sprach: ‹O größter König unserer Zeit, dies sind deine Kinder, und ich flehe dich an, dass du mir den Tod erlässest um dieser unmündigen Knaben willen.›»
Als der König diese Worte hört, beginnt er zu weinen. Er nimmt die drei Kinder in die Arme und erklärt Schehrezâd seine Liebe.
«So schmückten sie denn die Stadt in herrlichster Weise wie nie zuvor; die Trommeln wurden geschlagen, und die Flöten wurden geblasen, und alle Spielleute trieben ihre Kurzweil, während der König reiche Gaben und Spenden an sie austeilte und den Armen und Bedürftigen Almosen gab und alle seine Untertanen, alles Volk seines Reiches mit seiner Huld umfasste.»
Spiegeltext.
Wenn die Stimme einer geschichtenerzählenden Frau die Macht hat, Kinder auf die Welt zu bringen, dann hat auch ein Kind die Macht, Geschichten zum Leben zu bringen. Man sagt, der Mensch würde verrückt, wenn er nachts nicht träumen könnte. Ebenso wird ein Kind, wenn man ihm den Zutritt zum Phantastischen verwehrt, nie mit der Wirklichkeit zu Rande kommen. Das Bedürfnis eines Kindes nach Geschichten ist so fundamental wie sein Bedürfnis nach Nahrung, und es manifestiert sich auch auf die gleiche Weise wie der Hunger. Erzähl mir eine Geschichte, sagt das Kind. Erzähl mir eine Geschichte. Erzähl mir eine Geschichte, Daddy, bitte. Dann setzt sich der Vater hin und erzählt seinem Sohn eine Geschichte. Oder er legt sich im Dunkeln neben ihn auf das Kinderbett und beginnt zu sprechen, und als gäbe es auf der ganzen Welt nichts anderes mehr als seine Stimme, erzählt er seinem Sohn im Dunkeln eine Geschichte. Oft ist es ein Märchen oder eine Abenteuergeschichte. Oft ist es aber auch bloß ein schlichter Sprung ins Phantastische. Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Daniel, sagt A. zu seinem Sohn, der Daniel heißt, und diese Geschichten, in denen der Junge selbst als der Held auftritt, stellen ihn vielleicht am besten zufrieden. Ebenso, erkennt A. in seinem Zimmer beim Schreiben des Buchs der Erinnerung, spricht er von sich selbst als einem anderen, um seine eigene Geschichte zu erzählen. Er muss sich selbst abwesend machen, um sich dort zu finden. Und deshalb sagt er A., obwohl er eigentlich Ich sagen will. Denn die Geschichte vom Erinnern ist die Geschichte vom Sehen. Und selbst wenn die zu sehenden Dinge gar nicht mehr existieren, ist es eine Geschichte vom Sehen. Die Stimme spricht daher weiter. Und selbst wenn der Junge die Augen schließt und einschläft, spricht die Stimme seines Vaters im Dunkeln weiter.
Das Buch der Erinnerung. Buch zwölf.
Weiter kann er nicht mehr gehen. Kindern ist ohne jeden Grund von Erwachsenen Leid zugefügt worden. Man hat sie verlassen, man hat sie verhungern lassen, man hat sie gemordet, ohne jeden Grund. Es ist ihm unmöglich, erkennt er, noch weiterzugehen. «Aber siehst du, da bleiben ja die Kinderchen»,
Weitere Kostenlose Bücher