Die Erfindung der Einsamkeit
bis keine mannbare Jungfrau mehr in der Stadt war.»
An dieser Stelle nun macht Schehrezâd, die Tochter des Wesirs, freiwillig das Angebot, sich zu dem König zu begeben. («Sie hatte alle Bücher gelesen, die Annalen und die Lebensbeschreibungen der früheren Könige und die Erzählungen von den vergangenen Völkern, und sie war klug, gewitzt, weise und wohlerzogen.») Verzweifelt versucht ihr Vater ihr den Gang in den sicheren Tod auszureden, aber sie bleibt unerschütterlich. «Vermähle mich mit diesem König! Dann werde ich entweder am Leben bleiben, oder ich werde ein Opfer sein für die Töchter der Muslime und ein Werkzeug zu ihrer Befreiung aus seinen Händen.» Sie verabschiedet sich, um mit dem König zu schlafen, und setzt ihren Plan in die Tat um: «unterhaltsame Geschichten zu erzählen, um die wachen Stunden der Nacht zu verkürzen …; und damit mich und das Volk aus dieser Not zu retten und den König von seinem Tun abzubringen».
Der König willigt ein, ihr zuzuhören. Sie beginnt ihre Geschichte, und was sie da erzählt, ist eine Geschichte über das Geschichtenerzählen, eine Geschichte, die mehrere Geschichten enthält, die jede für sich vom Geschichtenerzählen handeln – wodurch ein Mensch vor dem Tode gerettet wird.
Der Tag beginnt heraufzudämmern, und mitten in der ersten Geschichte-in-einer-Geschichte verfällt Schehrezâd in Schweigen. «Was ist all dies gegen das, was ich euch in der nächsten Nacht erzählen könnte», sagte sie, «wenn der König mein Leben zu schonen geruhte!» Da sprach der König zu sich selber: «Bei Allah, ich will sie nicht töten lassen, bis ich den Schluss ihrer Geschichte höre.» So geht es drei Nächte weiter – jede Geschichte hört vor dem Ende auf und geht in den Anfang der Geschichte der nächsten Nacht über –, bis der erste Geschichtenzyklus beendet ist und ein neuer begonnen hat. Es geht wahrhaftig um Leben und Tod. In der ersten Nacht beginnt Schehrezâd die Erzählung von dem Kaufmann und dem Dämon. Ein Mann macht Rast in einem Garten (einer Oase in der Wüste) und verzehrt sein Mittagessen; dann wirft er einen Dattelstein fort, «und siehe, da erschien ein Dämon von gewaltiger Größe; der hielt in seiner Hand ein gezücktes Schwert, ging auf den Kaufmann los und sprach: ‹Her mit dir, dass ich dich töte, wie du meinen Sohn getötet hast!› Der Kaufmann fragte: ‹Wie habe ich deinen Sohn getötet?› Jener antwortete: ‹Als du die Dattel aßest und den Stein wegwarfst, traf er meinen Sohn auf die Brust, wie er so dahinging; und er starb sofort.›»
Damit werden zwei Motive angeschlagen: unschuldig schuldig werden (bezieht sich auch auf das Schicksal der mannbaren Jungfrauen des Königreichs) und Zauberei – Verwandlung eines Gedankens in einen Gegenstand, Erweckung des Unsichtbaren zum Leben. Der Kaufmann verteidigt sich, und der Dämon erklärt sich einverstanden, die Exekution auszusetzen. Doch in genau einem Jahr muss der Kaufmann an dieselbe Stelle zurückkehren, und dann wird der Dämon die Strafe an ihm vollziehen. Schon wird eine Parallele zu Schehrezâds Situation gezogen. Sie möchte ihre Hinrichtung hinauszögern, und zu ihrer Verteidigung flößt sie dem König diesen Gedanken ein – jedoch auf eine für ihn unmerkliche Weise. Denn dies ist die Funktion des Erzählens: jemandem eine bestimmte Sache vor Augen halten, indem man ihm eine andere zeigt.
Das Jahr vergeht, und der Kaufmann steht zu seinem Wort und kehrt in den Garten zurück. Er setzt sich hin und weint. Ein alter Mann, der an einer Kette eine Gazelle bei sich führt, kommt vorüber und fragt den Kaufmann, was ihm fehle. Die Geschichte des Kaufmanns fasziniert ihn (als wäre das Leben des Kaufmanns eine Erzählung, mit einem Anfang, einem Mittelteil und einem Ende, eine Fiktion, die jemand anderer sich ausgedacht habe – und so verhält es sich ja auch), und er beschließt dazubleiben und abzuwarten, wie die Sache ausgeht. Dann kommt ein zweiter alter Mann mit zwei schwarzen Hunden vorüber. Das Gespräch wiederholt sich, und dann bleibt auch er und wartet. Nun kommt ein dritter alter Mann, der eine hellbraune Mauleselin bei sich führt, und wieder spielt sich das Gleiche ab. Schließlich erscheint der Dämon in «einer gewaltigen Staubwolke, mitten in der Wüste dort». Als er den Kaufmann wegschleppen und mit seinem Schwert töten will, «wie du meinen Sohn, mein Herzblut, getötet hast!», tritt der erste alte Mann vor und sagt: «Wenn ich dir
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