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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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dieses Buchs.
    Collodi taucht seine Marionette in das Dunkel des Haifischs und erzählt uns damit, dass er seine Feder in das Dunkel seines Tintenfasses taucht. Pinocchio ist schließlich nur aus Holz. Collodi benutzt ihn als Werkzeug (buchstäblich als Schreibfeder), mit dem er seine Geschichte schreibt. Das ist durchaus keine primitive psychologische Interpretation. Collodi hätte gar nicht leisten können, was er in Pinocchio geleistet hat, wenn das Buch für ihn nicht ein Buch der Erinnerung gewesen wäre. Er war über fünfzig Jahre alt, als er es zu schreiben begann, und hatte kurz zuvor eine mittelmäßige Beamtenlaufbahn verlassen, die seinem Neffen zufolge «weder von Eifer noch Pünktlichkeit noch Unterordnung» geprägt gewesen war. Ebenso wie Prousts Roman von der Suche nach der verlorenen Zeit ist seine Geschichte eine Suche nach der verlorenen Kindheit. Sogar der Name, unter dem er zu schreiben beschloss, war eine Beschwörung der Vergangenheit. Sein richtiger Name war Carlo Lorenzini. Collodi war der Name des Geburtsortes seiner Mutter, in dem er als kleines Kind seine Ferien verbracht hatte. Von dieser Kindheit ist nur wenig überliefert. Er fabulierte gern, und seine Freunde bewunderten ihn, weil er sie mit seinen Geschichten begeisterte. Seinem Bruder Ippolito zufolge «machte er das so gut und mit solch schauspielerischer Begabung, dass die halbe Welt entzückt war und die Kinder ihm mit offenen Mündern zuhörten». In einer autobiographischen Skizze, die lange nach der Beendigung von Pinocchio entstanden ist, lässt Collodi wenig Zweifel daran, dass er sich selbst als Doppelgänger des Puppenjungen empfunden hat. Er porträtiert sich als Schelm und als Clown – wie er während des Unterrichts Kirschen isst und die Kerne einem Schulkameraden in die Taschen stopft, wie er Fliegen fängt und sie einem anderen in die Ohren steckt, wie er dem vor ihm sitzenden Jungen Männchen auf den Rücken malt: wie er, allgemein gesprochen, jedermann in Verlegenheit bringt. Ob dies der Wahrheit entspricht oder nicht, ist nebensächlich. Pinocchio war Collodis Stellvertreter, und nachdem er die Puppe erst einmal erschaffen hatte, sah Collodi sich selbst als Pinocchio. Die Puppe war zum Abbild Collodis als Kind geworden. Indem er also diese Puppe ins Tintenfass tauchte, benutzte er seine Schöpfung, um seine eigene Geschichte zu schreiben. Denn nur im Dunkel der Einsamkeit beginnt das Werk des Erinnerns.

    Denkbare Motti für das Buch der Erinnerung.
    «Sollten wir die ersten Spuren dichterischer Betätigung nicht schon beim Kinde suchen? Die liebste und intensivste Betätigung des Kindes ist das Spiel. Vielleicht dürfen wir sagen: Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt. Es wäre dann unrecht zu meinen, es nähme diese Welt nicht ernst; im Gegenteil, es nimmt sein Spiel sehr ernst, es verwendet große Affektbeträge darauf.» (Freud)
    «Sie vergessen nicht, dass die vielleicht befremdende Betonung der Kindheitserinnerungen im Leben des Dichters sich in letzter Linie von der Voraussetzung ableitet, dass die Dichtung, wie der Tagtraum, Fortsetzung und Ersatz des einstigen kindlichen Spielens ist.» (Freud)

    Er beobachtet seinen Sohn. Er beobachtet, wie der kleine Junge sich im Zimmer bewegt und ihm zuhört. Er sieht ihn mit seinen Spielsachen spielen und hört ihn mit sich selber reden. Zu allem, was der Junge tut, ob er einen Gegenstand aufhebt oder einen Lastwagen über den Boden schiebt oder dem vor ihm wachsenden Turm einen Klotz hinzufügt, spricht er, genau wie der Erzähler in einem Film, einen Kommentar oder erfindet eine Geschichte, die seine jeweilige Betätigung begleitet. Jede Bewegung erzeugt ein Wort oder eine Reihe von Worten; jedes Wort löst eine weitere Bewegung aus: eine Umkehrung, eine Fortsetzung, eine neue Reihe von Bewegungen und Worten. All das hat keinen festen Mittelpunkt («ein Universum, dessen Mittelpunkt überall und dessen Umfang nirgends ist»), abgesehen vielleicht vom Bewusstsein des Kindes, das freilich selbst ein sich ständig verlagerndes Feld von Wahrnehmungen, Erinnerungen und Äußerungen ist. Es gibt kein Naturgesetz, das nicht gebrochen werden kann: Lastwagen fliegen, ein Klotz wird zu einem Menschen, die Toten werden nach Belieben wiederauferweckt. Der kindliche Geist schwankt, ohne zu zögern, von einem Ding zum anderen. Sieh

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