Die Erfindung des Lebens: Roman
ein paar Steine und Gräser gesammelt und sortierte sie dann auf der Bank, oder ich blätterte in einem Bilderbuch, das Mutter für mich ausgesucht und mitgenommen hatte, es kam aber auch vor, dass ich einfach nur dasaß und den Frachtschiffen zuschaute, wie sie auf dem Fluss entlangfuhren, oder dass ich lange die Möwen beobachtete, wie sie von einem Ufer zum andern trudelten, in immer anderen Kurven und Drehungen, wie Trunkenbolde, die den geraden Weg nicht mehr fanden.
Ich starrte auf einen winzigen Ausschnitt der Umgebung und beobachtete ihn so lange, bis es rings um diesen Ausschnitt zu schwanken und zu flirren begann. Manchmal wurde mir dann etwas heiß, und ich musste die Augen rasch schließen, ja es kam sogar vor, dass mir in solchen Augenblicken richtig übel und schwindlig wurde, dann hatte ich zu lange auf einen Punkt gestarrt und musste mich bemühen, den Blick wieder von diesem Punkt wegzubekommen.
Besser war es, nicht einen festen Punkt oder einen kleinen, unveränderlichen Ausschnitt zu betrachten, sondern etwas, das sich bewegte. Ich ließ meine Beine langsam hin und her baumeln und beobachtete eines der langsamen Frachtschiffe bei seiner ruhigen Fahrt, wie es eine schmale, schwankende Rinne ins Wasser zog, und wie der gläserne Strudel mit den winzigen, hin und her springenden Blasen an seinem Heck sich allmählich verflüchtigte und in kleine, bleiche Wellen verwandelte, die dann ausrollten, bis hin zum Ufer.
Was glotzt er denn so?, mokierten sich damals manchmal einige Spaziergänger, die sich darüber wunderten, wie lange ich irgendwohin starren konnte, ohne mich zu bewegen. Sie konnten nicht wissen, dass Glotzen half, stark und unverletzbar zu werden, und dass es darüber hinaus half, den fremden Dingen um einen herum ein kleines Stück näher zu kommen, so dass sie etwas von ihrer Fremdheit verloren.
Auch das Glotzen habe ich im späteren Leben nicht aufgegeben, ich bin ein großer Glotzer und Anstarrer geblieben, und oft hat mir das sogar geholfen. Wenn ich in Museen gehe, laufe ich so lange durch die Säle, bis ich ein Bild zum Anstarren finde, und dann setze ich mich hin und glotze und glotze, bis ich das Bild selbst mit geschlossenen Augen in allen Details vor mir sehe. Wenn das Bild mir gut gefällt, wird es mir während des Glotzens von Minute zu Minute vertrauter, und schließlich habe ich das Gefühl, dass es zu mir gehört wie die kleinen Lebensbilder, die ich draußen, im Freien, beobachtet habe.
Das schönste Bild aber, das ich kenne, ist eine bunte Fotografie, die meine Mutter und mich auf einer Bruchsteinmauer am Rhein zeigt. Wir sitzen dicht aneinander gelehnt, meine Mutter hält unmerklich meine linke Hand, sie trägt einen langen, hellen, sehr schönen Mantel und einen eleganten, weißen Hut. Ich selbst starre irgendwohin, noch bin ich ein kleiner Knabe und wirke doch wahrhaftig auch schon wie ein Alter.
Ich liebe dieses Bild sehr, ich habe es jeden Tag hier in meinem römischen Arbeitszimmer vor Augen. Einmal entdeckte es ein Freund und fragte, wann es entstanden sei, und ich ließ mich im Überschwang unseres Gesprächs zu der Bemerkung hinreißen, dass ich mich manchmal stark danach sehne, noch einmal neben meiner Mutter auf dieser sonnigen, trockenen Bruchsteinmauer sitzen zu dürfen. Der Freund nannte meine Bemerkung sofort »regressiv«, Mann, das ist aber verdammt regressiv, was Du da sagst, meinte er.
Ich hasse das Wort »regressiv«, es ist ein Wort, mit dem man mir bestimmte Wünsche und Bilder austreiben will, es ist ein hartes, scharfes, spöttisches und lebloses Wort, es ist eines von den Worten, die all jene gerne benutzen, die mir nicht erlauben wollen, so zu sein, wie ich nun einmal bin, oder die sich nicht die geringste Mühe geben, zu verstehen, warum ich so bin, wie ich bin.
Ich jedenfalls halte meine Sehnsucht danach, noch einmal auf jener Mauer sitzen zu dürfen, nicht für »regressiv«, sondern für eine Sehnsucht nach jener in diesen Kindertagen zum ersten Mal empfundenen, sehr starken und ungetrübten Nähe zu einem anderen Menschen, nach der ich in meinem weiteren Leben dann immer wieder so sehr gesucht habe. Doch darüber später mehr.
3
ICH ERZÄHLTE bereits, dass ich diese Geschichte meiner Jugend in Rom schreibe. Ich habe immer wieder mehrere Monate am Stück in dieser Stadt gelebt, zuletzt aber war ich über zehn Jahre nicht hier. Mein jetziger Aufenthalt hat damit zu tun, dass ich zu Hause nicht mit meiner Arbeit vorankam. Ich
Weitere Kostenlose Bücher