Die Erfindung des Lebens: Roman
als die Juroren sich erheben.
Die Juroren mischen sich unter das Publikum, alle gehen hinaus ins Freie, um dort etwas zu trinken oder eine Zigarette zu rauchen. Ich aber bleibe sitzen, niemand hat anscheinend mitbekommen, dass ich mich nicht bewegen kann. Ich starre und starre, als ich an der Schulter berührt werde.
Jemand sagt meinen Namen, jemand bittet mich, ihn nach draußen zu begleiten. Bravo! , sagt der Mann, das hat mir sehr gut gefallen! Das war ein starker Auftritt!
Es ist genau dieser Satz, der mich wieder ins Leben zurückruft. Ein starker Auftritt? Habe ich gut gespielt? Danke, antworte ich, habe ich wirklich gut gespielt? Der Mann lacht: Sie haben nicht gut gespielt, Sie haben gut gelesen. Richtig, ich habe vorgelesen, das Vorlesen ist kein Vorspielen, das Vorlesen ist ein guter Ersatz .
Draußen, im Freien, wird sich der Mann als Lektor eines großen und traditionsreichen Verlages vorstellen. Wir werden zusammen ein wenig plaudern, und der Mann wird mir sagen, dass er an meinem Manuskript sehr interessiert sei. Wir werden ein Glas Sekt trinken, wir werden auf eine gute Zusammenarbeit anstoßen. Ein halbes Jahr später wird mein Manuskript in dem großen und traditionsreichen Verlag erscheinen.
Das aber weiß ich damals natürlich noch nicht. Ich denke auch nicht an das Veröffentlichen, ich denke an meinen Auftritt als Vorleser. Ich habe die wichtige Erfahrung gemacht, dass das Vorlesen ein guter Ersatz für das Klaviervorspiel ist. Es begeistert nicht so, es ist nicht so rauschhaft und mitreißend, aber es ist immerhin eine Melodieführung mit Nebenstimmen und starken Akkorden. Daran kann ich anknüpfen, und genau das will ich von nun an tun.
Ich habe wieder ein Ziel, ich habe eine Aufgabe, ich habe mich vom Dasein als Pianist hinübergerettet in ein Dasein als Schriftsteller …
Nach unserer gemeinsamen Probe habe ich mit Marietta einen Spaziergang gemacht. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass ein solcher Spaziergang beruhigt, man darf ihn nur nicht alleine machen, sondern braucht eine Begleitung, die einen ablenkt.
Ich gab mir Mühe, Marietta abzulenken, aber es war nicht leicht. Sie wollte weder eine Kleinigkeit essen noch etwas trinken, selbst auf ein Eis hatte sie keine Lust. Schließlich kehrten wir in das Haus zurück und trennten uns. Sie wollte sich umziehen, und auch ich zog mich um.
Fünf Minuten vor Beginn ihres Konzerts holte ich sie ab, und wir gingen zusammen mit Antonia nach unten. Als wir vor der Bühne erschienen, wurden die Scheinwerfer eingeschaltet. Die Sitzreihen waren längst alle besetzt, und die Zuhörer erhoben sich, als sie uns sahen. Wir setzten uns noch einen Moment, dann betrat ich die Bühne und sagte ein paar einleitende Worte, so, wie es in Italien bei solchen Gelegenheiten üblich ist. Dann verließ ich die Bühne und setzte mich neben Antonia. Marietta aber stand auf und ging die kleine Treppe zum Podium hinauf. Sie verbeugte sich, dann nahm sie Platz und begann zu spielen.
Als ich aber den Klang des Instruments auf dem weiten, immer mehr verstummenden Platz hörte, packte mich plötzlich eine starke Rührung. Monatelang hatte ich das alles mit Marietta geübt, Nuance für Nuance, deshalb hörte ich nicht nur ihr Spiel, sondern auch seine Geschichte. Ich selbst war Teil dieses Spiels, meine Geschichte war ein Teil von ihrer Geschichte.
Ich nahm ein Taschentuch aus meiner Hosentasche und strich mir damit über die Stirn, ich steckte es aber nicht wieder zurück, sondern hielt es weiter in der rechten Hand. Ich spürte, wie all das, was ich seit meiner Ankunft in dieser Umgebung erlebt hatte, auf einmal wieder lebendig wurde. Es war zu viel, ich konnte den Ansturm der Gefühle nur schwer ertragen. Etwas Ähnliches hatte ich damals, nach meiner Lesung am Wörthersee, erlebt, ich hatte den Vortragssaal nicht mehr betreten können, sondern war einfach geflohen...
Ich fahre mit einem Bus an den nahen See, ich habe eine Badehose dabei. Die Lesungen und Veranstaltungen gehen weiter, aber ich kann nicht mehr daran teilnehmen. Am See ziehe ich mich um und gehe ins Wasser. Ich halte Ihnen vor dem Abendessen einen Platz am Schriftsteller-Tisch frei, hatte der Lektor zum Abschied gesagt. Ich weiß nicht, ob ich einen Platz am Schriftsteller-Tisch möchte, nein, ich möchte eigentlich keinen. Ich brauche jetzt keinen Platz mehr an irgendeinem Tisch, ich brauche nur noch Geduld und eine starke, nicht nachlassende Lust auf das Schreiben.
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