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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Vorläufig bin ich ein Stück gerettet, ja, es sieht fast so aus.
     
    Ich tauche, ich tauche ab, ich mache ein paar Schwimmbewegungen in die Tiefe. Ich habe meinen Eltern nichts von diesem Auftritt erzählt, und ich habe Walter Fornemann gebeten, ihnen ebenfalls nichts zu erzählen. Jetzt ist geschehen, woran ich nicht mehr zu glauben gewagt habe, ich habe mich aus eigener Kraft aus einer schlimmen Lage befreit. Ich tauche, ich bleibe lange unter Wasser, und ich höre aus weiter Ferne, wie sich der Wortstrom bewegt: Das ist ein Baum. Nein. Das ist eine Weide. Und das ist eine Pappel. Pappeln sind viel schlanker und größer als Weiden. Weiden stehen selten so schlank und schön hintereinander wie Pappeln. Weiden ducken sich an das Ufer, Pappeln stehen stramm … Seit dem Tag, an dem ich aus Rom zurückkam, ist dies der schönste Tag. Es gibt also wieder schöne, sehr schöne Tage, an denen man kein bisschen traurig ist. Es gibt auch wieder Tage ohne Traurigkeit, die gibt es wieder. Heute ist so ein Tag. Ich freue mich. Ich werde mir nicht das Leben nehmen, nein, das werde ich nicht. Ich werde nicht einmal mehr daran denken, ob ich mir das Leben nehmen sollte. Es gibt keinen Grund mehr, sich das Leben zu nehmen. Ich freue mich, ich freue mich sehr …
     
    Es ist vorbei, Mariettas Konzert ist vorbei. Ich sitze ein wenig entrückt neben Antonia und bemerke, dass sie sich während des Konzerts bei mir eingehängt hat. Wir sitzen dicht nebeneinander, unsere Schultern berühren sich.
    Als der heftige Beifall einsetzt, flüstert sie mir etwas ins Ohr. Ich verstehe sie nicht, es ist zu laut. Ich schaue sie an, sie deutet hinauf auf die Bühne. Da sehe ich, dass Marietta mir winkt, Marietta möchte, dass auch ich die Bühne betrete.
     
    Ich wehre ab, nein, das muss doch nicht sein. Da gibt Marietta den Klatschenden ein Zeichen, sie sollen aufhören zu klatschen, sie sollen das Klatschen einen Moment unterbrechen. Sie nennt meinen Namen, sie sagt, dass ich auf die Bühne kommen solle, sie nennt mich meinen lieben Lehrer, der mir das alles beigebracht hat. Ich spüre, wie Antonia mich leicht nach vorne schiebt, ich soll mich nicht zieren, ich soll dem Kind die Freude machen.
     
    Also gehe ich rasch die kleine Treppe hinauf. Marietta kommt auf mich zu, ich gebe ihr einen Kuss und bedanke mich. Dann aber gibt sie noch einmal ein kurzes Zeichen: Liebe Freundinnen und Freunde, sagt das Kind, Giovanni wird jetzt zum Schluss noch selbst etwas spielen. Bitte, Giovanni, nun kommt Dein Auftritt!
     
    Ich?! Ich soll spielen?! Ich sehe, wie Marietta das Podium verlässt, ich höre die aufmunternden Rufe des Publikums, ich spüre das Scheinwerferlicht wie in den Tagen, als ich als junger Mann auf den römischen Plätzen auftrat und spielte. Dann nehme ich Platz.
     
    Wie ich später erfahre, beginne ich etwa gegen 20 Uhr zu spielen. Als ich das Podium wieder verlasse, sind beinahe zwei Stunden vergangen. Ich habe Schumanns Fantasie in C-Dur gespielt, ich habe Bach, Scarlatti und zum Abschluss noch Prokofieff gespielt. Nach jedem Stück war der Beifall so groß, dass ich nicht aufhören konnte …
     
    Gegen 22 Uhr ist der große ovale Platz vor unserem Wohnhaus mit Menschen überfüllt. Ich stehe auf dem Podium und verbeuge mich, ich habe mein römisches Konzert also doch noch gegeben.
     
    Ich blicke hinab auf die klatschenden, begeisterten Menschen, ich schaue zu Antonia und Marietta.
     
    Dann sehe ich meinen Vater, er winkt zu mir hinauf. Und ich sehe meine schöne Mutter, sie schaut mich regungslos an. Wir drei verstehen uns gut, wir haben uns immer verstanden, ein Leben lang. Ich verbeuge mich vor den beiden, ich verbeuge mich tief.
     
    Dann winke ich ein letztes Mal und verabschiede mich. Ich gehe die kleine Treppe wieder hinab und betrete den Boden der Ewigen Stadt.

Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe,
diese drei; aber die Liebe ist die größte
unter ihnen …

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© 2009 Luchterhand Literaturverlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
    Alle Rechte vorbehalten.
    eISBN : 978-3-641-03420-7
     
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