Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
dessen Nachnamen ich nicht kenne. Ich schließe die Augen und sehe Onkel Thoby auf dem imaginären Stuhl sitzen, mit Stricken gefesselt und in güldenes Licht getaucht. Oddly!
Ich werde dich finden.
Und wie üblich registriere ich erst mit beträchtlicher Verspätung, was Leonel de Tigrel gesagt hat. Denn er hat zwar zwei Stunden pausenlos geredet, aber eigentlich nur das gesagt, was jetzt, zehn Stunden später, endlich bei mir ankommt: Wenn eine Maus Schmerzen hat oder im Sterben liegt, versteckt sie sich. Sie gräbt sich ein.
Knarrend öffnet sich die Tür. Und Hamlet kommt herein. Wie ich insgeheim gehofft hatte. Er wird doch wohl nicht zu mir aufs Bett klettern. Das könnte nämlich ungemütlich werden. Nein. Er steht einfach da, legt das Kinn auf meine Brust. Und schläft ein.
D ie südenglische Landschaft sieht aus wie eine zerknitterte Decke, bei der die Nähte durchschimmern. Hecken gehören ins Freie, Dad. Warum wusstest du das nicht. Ponys galoppieren im Wolkenschatten. Mal scheint die Sonne, mal regnet es. Der Zug zuckelt gen Süden, zum Fußende des Bettes.
Ziel: Penzance.
Als Toff Penzance sagte, hielt ich das zunächst für einen Scherz. Penzance. À la die Piraten von.
Ja.
Aber Penzance gibt es doch gar nicht wirklich, oder.
Toff sitzt mir gegenüber und trägt ein gelbes Halstuch mit kleinen blauen Tupfen. Wir sitzen im Speisewagen. Wenn er aus dem Fenster sieht, ist er eine Spielkarte. Ein an der Hüfte abgeschnittener Bube, pardon, Bauer.
Meine Stirnhöhlen sind zu. Wir bestellen Kaffee. Auf der anderen Seite des Ganges spricht ein Mann laut in sein Handy.
Toff hat einen Brief geschrieben. Er verschließt ihn in einem Umschlag, ohne diesen zu adressieren. Ist der pour moi . Nein. Pour qui . Er liegt zwischen uns auf dem Tisch.
Der Mann mit dem Handy nennt seine Kreditkartennummer. Dem gesamten Speisewagen. Ich schnappe mir Toffs Stift und notiere sie auf meiner Serviette. Ob er auch noch das Ablaufdatum nennt. Ja. Was für ein Trottel.
Audrey.
Was.
Accent-grave -Augenbrauen.
Kann man vielleicht noch mal gebrauchen, sage ich.
Wir müssen uns über Geld unterhalten.
Nein.
Du bist bestens versorgt.
Wenn du mir schon wieder mit so einem blöden Testament kommst, schütte ich meinen Kaffee darüber.
Wie du willst.
Ein heftiger Windstoß erfasst den Zug. Das Fußende des Bettes ist jetzt nicht mehr weit. Wer hätte gedacht, dass es in England Palmen gibt. Wir halten vor einer gelb getünchten Backsteinmauer mit der Aufschrift St. Erth.
Toff sagt: Ich gehe nur eben eine rauchen.
Von wegen. Ich greife über den Tisch, um ihn an seinem Halstuch festzuhalten, und stoße stattdessen seinen Kaffee um. Scheiße.
Ich bitte dich, Audrey. Oder hast du Angst, dass ich vom St. Erthboden verschwinde.
Haha.
Er verlässt den Waggon.
Ich wische den Kaffee auf. Er hat seinen Aktenkoffer mitgenommen. Und den Umschlag liegen lassen. Moment mal. Ich stehe auf.
Er steht draußen und zündet sich eine Zigarette an. Und macht wie alle Raucher eine hohle Hand. Sein Halstuch flattert im Wind. Ich ziehe das Fenster herunter. Steig wieder ein.
Er blickt auf.
Steig wieder ein.
Ich warte hier auf dich.
Was soll das heißen, du wartest hier auf mich.
In St. Erth, sagt er.
Wie lange.
So lange wie nötig.
Das ist wirklich lieb von dir, Toff. Aber jetzt steig wieder ein.
Der Zug setzt sich in Bewegung.
Aber ich weiß doch gar nicht, wohin.
Es ist nur noch eine Station, sagt er. Steig an der nächsten Station aus.
Ich setze mich wieder und sehe ihm nach, bis er verschwunden ist. Ich nehme den Umschlag. Pour moi . Für wen sonst. Endlich kommen wir der Sache auf den Grund. Bin ich bereit, der Sache auf den Grund zu gehen.
Liebe Audrey,
Du hast mich gefragt, ob ich Deinen Onkel ent-
führt, ihm gedroht oder eventuell etwas gesagt
habe, das ihn bewogen haben könnte, Dich zu ver-
lassen. Ich habe diese Frage verneint. Dabei ist es
durchaus möglich, dass ich das eine oder andere ge-
sagt habe – Drohungen und Gemeinheiten, die ich
inzwischen bereue. Wenn Du ihn besuchst, richte
ihm bitte aus, dass es mir leidtut und ich das, was
ich für ihn und Walter getan habe, jederzeit wie-
der tun würde. Er weiß dann schon, was ich meine.
Ich bin immer für Dich da.
Dein
Toff
Penzance liegt am Ende von England. Kaum hat man St. Erth verlassen, ist man auch schon in Penzance. Hier gibt es weiße Strände mit Palmen, die aussehen wie umgestülpte Schirme. Das Meer streut einem weiße Perlen vor die
Weitere Kostenlose Bücher