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Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Titel: Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Grant
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Verdacht, dass es da einen Ausweg gibt, ein Hintertürchen. Haben Sie nicht schon als Kind gehofft, dass noch zu Ihren Lebzeiten ein technologisches Wunder geschieht, das es Ihnen erspart, den Weg allen Fleisches zu gehen. Den Weg, den Milliarden vor Ihnen gegangen sind. Natürlich gibt es eine Zauberformel. Und natürlich wird ein bärtiges Kerlchen wie ich diese Formel eines Tages finden. Wenn nämlich Leben prinzipiell möglich ist, warum soll es dann nicht auch möglich sein, am Leben zu bleiben . Letzteres ist unter Umständen sogar leichter zu bewerkstelligen als Ersteres.
    Er putzt sich die Nase. Er spricht ziemlich laut. Vielleicht sind seine Ohren verstopft.
    Und diese Prognose ist mitnichten aus der Luft gegriffen, fährt er fort. Denn Leben ist letztlich das Einzige, worauf der Körper sich versteht. Mehr noch, der Körper trägt die Erinnerung an seine Jugend in sich. Und dieses Wissen um das Geheimnis der Jugend ist in jeder unserer Zellen gespeichert. Wir müssen lediglich ihr Gedächtnis auf Trab bringen und die Zellen dazu animieren, in ein früheres Stadium zurückzukehren.
    Ja, aber was ist, wenn der Körper auch die Erinnerung an seinen Tod in sich trägt.
    Er lehnt sich stöhnend zurück, als ob er sagen wollte: Jetzt haben Sie’s mir aber echt gegeben, Audrey Flowers. Warum sollte der Körper sich erinnern können, wie es ist, nicht zu existieren.
    Ich kann mich dunkel erinnern, wie es ist, nicht zu existieren.
    Blödsinn. Aber egal. Ich weiß, was Sie sagen wollen. Sie wollen sagen, dass Sterben etwas Natürliches ist. Und dass es unnatürlich ist, das Leben zu verlängern.
    Wollte ich das wirklich sagen. Ich glaube nicht, dass ich das sagen wollte.
    Ich hingegen sage Ihnen: Wenn ich vor fünfhundert Jahren gelebt hätte, wäre ich längst tot. Spätestens mit vierzig hätte mein Körper sich »erinnert«, wie man stirbt. Heute »erinnert« er sich erst mit achtzig. Was ist in der Zwischenzeit passiert. Haben wir vergessen, wie man rechtzeitig stirbt. Oder haben wir gelernt, länger zu leben.
    Die Stricker am Nebentisch haben das Stricken eingestellt. Zum Wohl, sagt Leonel und hebt sein Glas.
     
    Ich stütze den Kopf in die Hand und höre ihm zu. Mein Kaffee ist kalt. Er kommt mir vor wie eine überlebensgroße Ausgabe von meinem Dad. Die Palmen am Kragen, der seinen Bart umrahmt, machen mich ganz kirre. Ich versuche, das Gespräch wieder auf Mäuse zu lenken, insbesondere auf Wedge, und er lässt einen Vortrag zur Herkunft des Wortes Muskel vom Stapel. Das von Mus musculus kommt. Weil die alten Römer offenbar der Ansicht waren, dass der Oberarmmuskel im angespannten Zustand aussieht, als ob eine kleine Maus unter der Haut gefangen sei.
    O Gott, hoffentlich führt er mir das nicht auch noch vor.
    Da kommt Bier Nummer vier.
    Doch, er zieht seinen dünnen grauen Pulli aus, unter dem das kurzärmelige Hawaiihemd zum Vorschein kommt. Seine Arme sind spindeldürr. Am besten gar nicht hinsehen. Trotzdem bringt er eine winzige Mus musculus zustande. Um Himmels willen. Schauen Sie. Die alten Römer glaubten, diese Sehne ähnele einem Mäuseschwanz. Er deutet auf ein seilartiges Etwas an der Innenseite seines Ellenbogens. Sehen Sie.
    Ja, ich seh’s, sage ich. Ziehen Sie Ihren Pullover wieder an. Sonst holen Sie sich noch den Tod.
    Er zieht seinen Pullover wieder an und stiert in sein Bier. Wenn eine Maus Schmerzen hat oder im Sterben liegt, versteckt sie sich, sagt er nach einer kurzen Pause. Sie gräbt sich ein.
    Was.
    Früher haben Ihr Vater und ich nächtelang diskutiert.
    Worüber.
    Nichts Metaphysisches. Methoden. Er hielt nichts von Kalorienrestriktion.
    Mein Glück, sage ich. Ich wende den Kopf. Zu einem zweiten Kaffee würde ich nicht Nein sagen, gesetzt den Fall, es käme jemand vorbei und böte mir einen an.
    Aber dass er ausgerechnet Psychologe werden musste.
    Dann standen Sie sich also nahe.
    Nahe wäre zu viel gesagt.
    Aber Sie haben sich als Watson und Crick verkleidet.
    Watsons und Cricks gab es viele.
    Ich frage mich, was das heißen soll. An Halloween. Oder was. Ich stelle mir zwei zu einer Doppelhelix verschlungene Männer vor. Ob ich einen Watson und Crick erkennen würde, wenn er mir auf der Straße entgegenkäme.
    Leonel geht noch einmal zur Theke. Er verspricht, mir einen Kaffee mitzubringen.
    Eine Strickerin beugt sich zu mir herüber und fragt: Ist das der Typ aus 60 Minutes .
    Ich nicke.
    Hab ich’s dir nicht gesagt, sagt sie und gibt ihrer Freundin unter dem Tisch einen

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