Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
Füße. Willkommen, willkommen, armes Waisenkind.
Penzance gibt es also wirklich. Ich bin in der Onkel-Thoby-Biografie von meinem Dad gelandet. Folglich muss Onkel Thoby hier sein. Biografie-Regel Nummer Eins.
Ich gehe durch die verschlungenen Straßen, die aus der Luft betrachtet das Wort PENZANCE ergeben. Ich beschirme die Augen mit der Hand. Und suche die Strände nach einer asymmetrischen Silhouette ab. Der Wind ist kalt und stürmisch. Der Himmel färbt sich dunkel. Wo. Wo ach wo soll ich nur suchen.
Ich komme zu einem Pub namens’Tis Mabel’s. Es erinnert mich an das Bebe’s bei uns zu Hause. Im Kamin brennt ein Feuer. Die Frau hinter der Theke hat Puffärmel. Sie trocknet ein Glas ab. Sie stellt das Glas weg und sieht mich an. Arme Wandergesellin, sagt sie.
Wie bitte.
Sie sehen so verloren aus.
Je nun. Ich suche jemanden.
An der Theke sitzt niemand, aber durch einen Türbogen gelangt man in einen Nebenraum, wo eine Gruppe von Männern Darts spielt. Ich schlendere in den Nebenraum. Schenkt ein den Piratensherry. Füllet das Piratenglas. Sie alle klingen wie Onkel Thoby. Aber er ist nicht dabei.
Da plötzlich schwant mir etwas: Wenn in Cambridge alle klingen wie mein Dad und in Penzance alle klingen wie Onkel Thoby, und wenn die Leute in Cambridge anders klingen als die Leute in Penzance, dann klingen mein Dad und Onkel Thoby ganz verschieden. Das nennt man einen Syllogismus.
Mabel, nehme ich einfach mal an, tritt neben mich. Wen suchen Sie denn, Schätzchen.
Ein Mann, bei dem ein Arm länger ist als der andere.
Sie legt den Kopf schief. Wilfred.
Ich setze mich an die Theke, während sie mir eine Skizze zeichnet. Hier, essen Sie. Sie stellt mir einen Teller Suppe hin. Is’n langer Weg, sagt sie, und es liegt Schnee.
Schnee. Wie kann Schnee liegen, wenn hier Palmen wachsen.
Volle fünf Zentimeter, sagt sie. Und wir haben nur drei Pflüge.
Reicht das nicht.
Drei für ganz Cornwall, sagt sie.
Ich schaue auf die Skizze. Tremorden Lane. Sie liegt am äußersten Ende des E in PENZANCE. Auf einem Hügel. Mit Blick auf einen Strand.
Obwohl ich sie nicht angerührt habe, bezahle ich die Suppe.
Draußen fängt es an zu schneien. Große, wunderschöne Flocken. Ob ich je wieder Schnee sehen werde, der auf Palmen fällt. Dazu müsste ich mir schon eine Penzance-Schneekugel kaufen. Aber wie soll ich diese Schneekugel nach Hause kriegen.
Es ist dunkel. Die Straßenlaternen gehen an. Mein Schatten flattert über das Kopfsteinpflaster. Meine Tasche schaukelt. Über einem Laden weht eine Piratenflagge. Um mir Mut zu machen, summe ich das Lieblingslied von meinem Dad, das Lied des Modernen Generalmajors:
Ich kalkuliere auf die Schnelle Sinus, Tangens,
Kosinus
Und rechne spielend Grade um von Fahrenheit in
Celsius.
Sofort hebt sich meine Laune. Ich werde ihn finden, Dad. Er ist hier. Er hat sich eingegraben, aber es ist noch nicht zu spät. Ich beschleunige meine Schritte.
Es ist ein steiler Aufstieg zur Tremorden Lane. Oben stehen eine Feldsteinmauer und eine Reihe dunkler Häuser. Sommerhäuser. Sind die überhaupt beheizt. Keine Nummern. Ich werde an jede Haustür klopfen müssen.
Unter mir liegt der Strand. Das Meer markiert den starken Mann. Schneeflocken wirbeln.
Ich finde es unvorstellbar, dass Onkel Thoby, unser Onkel Thoby, in einem dieser dunklen Häuser sein soll. Trotzdem. Möglich ist es. Er ist hier. Er muss hier sein. Ich klopfe an die erste Tür. Keine Reaktion. Weiter zur nächsten. Keine Reaktion. Und zur nächsten. Es sind insgesamt acht Häuser, aber nirgends macht jemand auf.
Nur nicht den Mut verlieren.
Ich gehe zurück zum ersten Haus und versuche, die Tür zu öffnen. Verschlossen. Die nächste. Verschlossen. Die dritte. Unverschlossen. Ich gebe der Tür einen Schubs und komme in eine Küche. Flaschen klirren über den Boden. Ich warte, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Auf der Anrichte liegt ein orangenes Handschuhpaar. Onkel Thoby, rufe ich.
Ich komme in ein Wohnzimmer. Er liegt auf dem Sofa und schläft. Tief und fest. Aber er atmet.
Ich sinke neben ihm auf die Knie. Im schummrigen Licht sieht er irgendwie bläulich aus. Mit dunklen Ringen um die Augen. Ich streiche ihm die Haare zurück. Er sieht aus wie jemand, der gerade seinen Bruder verloren hat. Er sieht aus wie jemand, der gerade seine große Liebe verloren hat.
O nkel Thoby. Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe. Öffne die Augen. Bitte. Es tut mir leid. Ich bin
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