Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
Vom Netzwerk:
filigranen Deutsch:
    »Warum? Warum reisen Sie fort?«
    Ewald stemmt die Ellbogen auf die Kniee und legt das Kinn in die hohlen Hände.
    »Sie sind ja auch fortgegangen von Hause«, antwortet er.
    Und Jeanne warnt schnell:
    »Sie werden Heimweh haben.«
    »Ich habe Sehnsucht«, gesteht Ewald, und so reden sie eine Weile aneinander vorbei.
    Dann kehren beide um und kommen sich entgegen; denn Jeanne beichtet leise: »Ich habe weg müssen, wir sind acht Geschwister zuhaus, da können Sie sich vorstellen aber mir ist sehr bang. Freilich, Alle sind ja gut hier «, fügt sie ängstlich an und dann bittet das Mädchen: »Und Sie?«
    »Ich?«, der junge Mensch ist zerstreut, »ich? nein, ich muß nicht fort, weiß Gott, im Gegenteil. Sie sehen ja: ein jeder hier weiß, daß ich den letzten Sonntag hier bin, und tut jemand was dergleichen? Aber trotzdem Warum lächeln Sie?« unterbricht er sich.
    Sie zögert, und dann:
    »Sind Sie ein Dichter, bitte?« Ganz rot ist sie und erschrocken wie ein Kind.
    »Das ist es eben, Fräulein,« erklärt er »ich weiß nicht. Und einmal muß man es doch wissen, nicht? So oder so. Hier kommt man zu keiner Klarheit darüber. Man kann nicht forttreten von sich, es fehlt die Ruhe, der Raum fehlt, die Perspektive.
    Verstehen Sie das, Fräulein?«
    »Vielleicht« nickt die Französin, »aber ich meine Ihr Herr Vater muß doch Freude haben und dann Ihre «
    »Meine Mutter, wollen Sie sagen. Hm. Ja, das hat schon so mancher behauptet. Wissen Sie, meine Mutter ist krank. Sie werden ja wohl gehört haben obwohl man vermeidet, hier ihren Namen zu brauchen. Sie hat meinen Vater verlassen. Sie reist. Sie hat immer nur soviel mit, als sie unterwegs braucht, auch von Liebe Ich weiß lange nichts von ihr, denn wir schreiben uns seit einem Jahr nichtmehr. Aber gewiß erzählt sie zwischen zwei Stationen im Coupé: ›Mein Sohn ist ein Dichter ‹«
    Pause.
    »Ja, und dann mein Vater. Er ist ein trefflicher Mensch. Ich hab ihn lieb. Er ist so vornehm und hat ein goldechtes Herz. Aber die Leute fragen ihn: ›Was ist Ihr Sohn?‹ Und da schämt er sich und wird verlegen. Was soll man sagen? Nur Dichter? Das ist einfach lächerlich. Selbst wenn es möglich wäre das ist ja kein Stand. Er trägt nichts, man gehört in keine Rangsklasse, hat keine Pensionsberechtigung, kurz: man steht in keinem Zusammenhang mit dem Leben.
    Deshalb darf man das nicht unterstützen und zu nichts ›Gut‹ und ›Amen‹ sagen. Begreifen Sie jetzt, daß ich meinem Vater nie etwas zeige überhaupt niemandem hier; denn man beurteilt meine Versuche nicht, man haßt sie von vornherein, und man haßt mich in ihnen. Und ich habe selbst soviel Zweifel. Wirklich: ganze Nächte lieg ich mit gefalteten Händen wach und quäle mich: ›Bin ich würdig?‹«
    Ewald bleibt traurig und still.
    Die anderen sind indessen wach geworden und gehen zwei und zwei in die Nebenzimmer, wo die Whisttische bereit stehen.
    Der Inspektor ist guter Laune. Er klopft seinem Sohn leise auf die Schulter: »Na, Alter?«
    Und Ewald versucht zu lächeln und küßt ihm die Hand.
    Er wird doch bleiben, denkt der Inspektor: das ist vernünftig. Und so geht er den anderen nach.
    Der junge Tragy vergißt sofort sein Lächeln und klagt: »Sehen Sie, so hält er mich. So leise, nicht mit Gewalt oder Einfluß, fast nur mit einer Erinnerung, als ob er sagte: ›Du warst einmal klein, und ich habe dir einen Christbaum angezündet jedes Jahr bedenke ‹ Er macht mich ganz schwach damit. Aus seiner Güte ist kein Ausgang, und hinter seinem Zorn ist ein Abgrund. Zu diesem Sprung hab ich nicht Mut genug.
    Ich bin wahrscheinlich überhaupt feige, Sie können mir glauben, feige und unbedeutend. Es wäre mir ganz gut hier zu bleiben, so wie alle es sich denken, brav und bescheiden zu sein und einen und denselben armseligen Tag so hinzuleben immer und immer wieder…«
    »Nein«, sagte Jeanne entschieden »jetzt lügen Sie…«
    »Oh ja, vielleicht. Sie müssen nämlich wissen: ich lüge sehr oft. Je nach Bedürfnis, einmal nach oben, einmal nach unten; in der Mitte sollte ich sein, aber manchmal mein ich, es ist gar nichts dazwischen. Ich komme zum Beispiel zu Besuch zu Tante Auguste. Es ist licht, und die urväterliche Wohnstube ist gerade so recht heimlich. Und ich setze mich ohneweiters in den besten Stuhl, lege die Beine übereinander und sage: ›Liebe Tante‹, sag ich ungefähr , ›ich bin müde, und deshalb werde ich meine staubigen Füße auf dein Kanapee, gerade auf die

Weitere Kostenlose Bücher