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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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erinnern: »Du hast vor vier oder fünf Wochen einmal eine Geschichte zu erzählen begonnen « und er will sich schnell besinnen, was für eine Geschichte das gewesen sein mag. Aufmerksam erkundigt er sich: »Was war das doch, bitte?«
    Die vier Kusinen denken nach.
    Indessen wendet sich die Hausfrau an ihn: »Dichtest du noch? «
    Ewald wird blaß und sagt zu den Kusinen: »Also wißt ihr nicht ..?« Und er hört, wie die verwitwete Majorin staunt: »Waaas, er dichtet?« und sie schüttelt den Kopf: »Zu meiner Zeit …«
    Aber trotzalledem will er sich seiner Geschichte, die er vor fünf oder sechs Wochen begonnen hat, entsinnen. Er hofft: es wird sich irgendwo anbringen lassen, daß heute der letzte Sonntag ist, und dann kann man aufatmen. Allein plötzlich unterbricht ihn Frau von Wallbach:
    »Dichter sind immer zerstreut. Ich denke, wir sind Alle fertig in den Salon zu gehen«, und zu Ewald: »Das mit der Geschichte hat ja wohl Zeit am nächsten Sonntag, nichtwahr?«
    Sie lächelt geistreich und erhebt sich. Der junge Mann ist wie ein Verurteilter. Er fühlt: Es wird also immer wieder ein ›nächster‹ Sonntag sein und Alles ist umsonst. »Umsonst« stöhnt etwas aus ihm.
    Allein das hört schon niemand mehr. Man rückt die Stühle, streckt sich, sagt sich mit fetter, zufriedener Stimme, die über vieles Schlucken wie über schlechtes Pflaster rollt, »Mahlzeit« und zieht sich an den schweißigen Händen in den Salon. Dort ist es wie vorher. Nur sitzt man jetzt weiter voneinander, und das Gefühl der Zusammengehörigkeit ist nichtmehr so lebhaft wie vor Tisch.
    Die verwitwete Majorin wandert vor dem Klavier auf und ab und knackt sich die Gichtfinger gerade. Die Hausfrau sagt: »Die Tante spielt Alles nach dem Gehör es ist staunenswert.«
    »Wirklich« staunt Tante Auguste »auswendig?«
    »Auswendig«, beteuern die vier Kusinen und wenden sich an die Majorin: »bitte, spiel.«
    Lange läßt sich die verwitwete Richter bitten, che sie großmütig fragt: »Was wollt ihr denn?«
    »Mascagni«, träumen die vier Kusinen denn das ist gerade modern.
    »Ja«, sagt Frau Eleonore Richter und probt die Tasten.
    »Cavalleria?«
    »Ja«, sagen einige.
    »Ja«, nickt die alte Dame und denkt nach.
    »Die Tante spielt Alles nach dem Gehör « sagt Tante Auguste, die leise eingeschlafen war, und jemand fügt mit tiefem Atemholen an:
    »Ja, es ist staunenswert «
    »Ja «, zögert die Majorin und probt die Tasten: »es muß mirs einer pfeifen.«
    Der Herr Inspektor pfeift: »So such ich den Humor « Mikado.
    »Richtig« lächelt die Tante: »Cavalleria«, und lächelt, als ob das ihre ›Jugend‹ wäre.
    Sie beginnt also mit ›Mikado‹ und spielt dann, wundersam versöhnt: ›Der Bettelstudent‹ und ›Die Glocken von Corneville‹.
    Die andern schlafen darüber dankbar ein, und die Majorin selbst kommt ihnen nach.
    Da hält es Ewald nicht länger aus, er muß es aussprechen um jeden Preis, und als ob das die selbstverständliche Folge der ›Glocken von Corneville‹ wäre, sagt er: »Der letzte Sonntag.«
    Niemand hat das gehört als Fräulein Jeanne. Sie geht lautlos über den tiefen Teppich und setzt sich dem jungen Mann gegenüber ans Fenster.
    Eine Weile betrachten sich die beiden.
    Dann fragt die Französin leise: »Est-ce que vous partirez, monsieur?«
    »Ja,« gibt ihr Ewald deutsch, »ich reise fort, Fräulein. Ich reise fort«, wiederholt er gedehnt und freut sich an der Breite seiner Worte. Er spricht eigentlich zum erstenmal mit Jeanne und ist erstaunt. Er fühlt unvermittelt, daß sie nicht einfach ›das Fräulein‹ ist, wie die andern meinen, und denkt: Merkwürdig, daß ich das nie erkannt habe. Sie ist eine, vor der man sich neigen muß eine Fremde. Und obwohl er still und beobachtend bleibt, verneigt sich etwas in ihm vor der Fremden tief so übertrieben tief, daß sie lächeln muß. Das ist ein graziöses Lächeln, welches sich mit Barockschnörkel um die feinen Lippen schreibt und nicht bis an die Traurigkeit ihrer schattigen Augen reicht, die immer wie nach einem Weinen sind. Also irgendwo lächelt man so erfährt Tragy, der Jüngere.
    Und gleich danach hat er das Bedürfnis, ihr etwas Dankbares zu sagen, das ihr Freude machen muß. Ihm ist, als sollte er sie an etwas erinnern, was ihnen gemeinsam war, zum Beispiel sagen: ›Gestern‹ und verständig aussehen dabei. Aber es gibt ja in aller Welt nichts Gemeinschaftliches für sie. Da fragt sie ihn mitten in diese Verwirrung hinein in ihrem

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