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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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eigentlich, sie lernte es nicht. Er war gegangen und mit ihm der Sommer. Wie soll man da Mut haben zu Herbsttagen? Eine Woche lang ging sie an allen vorbei. Sie hatte noch nicht geweint. Aber eines Morgens kam sie vor die Rosenlaube. In diesem Augenblick fühlte sie die ganze Tiefe und Treue des Lebens, welches sie gehabt hatte vor Georg. Und sie sehnte sich nach diesen langen ähnlichen Mädchentagen, und fühlte, daß sie ihnen nicht entfremdet war. Und sie trat ein. Vom engen Eingang riß ein Spinnennetz und blieb zitternd auf ihren blassen Wangen liegen, die es mit einem Schleiergefühle umspannte. Und mit so verhülltem Gesicht, sah die Wiederkehrende in die dunkle Laube hinein, in der sich nichts verändert hatte …

Albrecht Ostermann
Fragment
1900/01
    Am 17. September, abends um neun Uhr, stand Herr Albrecht Ostermann etwas steif vom Tische auf (man hatte eben Abendbrot gegessen), und erklärte seiner Frau: »Ich möchte gern noch etwas spazieren gehn ..«
    Frau Klementine wartete eben darauf, daß ihr Gemahl beginnen würde, ihr aus der Abendzeitung vorzulesen, was täglich um diese Stunde geschah. Aber Herr Ostermann wiederholte: »Ja, wirklich ein wenig möchte ich noch ausgehn …«
    Das war in den sechzehn oder siebzehn Jahren ihrer Ehe noch nie geschehen. Trotzdem sagte Frau Klementine nur: »Aber Albrecht …« denn sie widersprach niemals seinen Absichten.
    Und als er den Überzieher wieder anzog, fuhr sie fort: »Du bist ja kaum aus dem Caféhaus nachhause gekommen …« »Ja, trotzdem, liebe Klementine, im Caféhaus hab ich eben gesessen. Und, siehst du, ich möchte noch ein wenig Bewegung machen, sonst kann ich wieder nicht einschlafen.« Dagegen war nichts einzuwenden, als höchstens: »Das hast du aber noch niemals getan, Albrecht …«
    »Ganz recht, liebe Klementine, ich habe es noch niemals getan. Aber ist damit gesagt, daß ich es nie tun soll? Es ist mir so die Idee gekommen, die Lust, ganz spontan. Warum soll ich ihr nicht nachgeben? Weshalb nicht einmal eine kleine Ausnahme? Ich gehe ein wenig in die Allee. Dort ist es jetzt leer und wohl auch schon etwas kühler. Adieu, liebe Klementine.« Er hielt ihr seine linke Wange hin, die sie fast gewohnheitsgemäß mit ihren feuchten, vollen Lippen berührte.
    In der Tür wandte er sich noch einmal zurück. »Und warte nicht auf mich mit dem Schlafengehen, damit du nicht aus der Ordnung kommst. Ich bin ein Störefried, ein Ausreißer, und du sollst nicht durch meine Unart incommodiert sein « scherzte er und lächelte, was seinem schmalen, frühgealterten Gesicht schwerfiel. Dann trat er nochmals an den Tisch heran, empfing, ganz wie früher, den befeuchteten Kuß auf die linke Wange und verneigte sich unbeholfen, vor seiner behäbigen Frau. Daß er diese Abschiedszeremonie wiederholte, will nichts besagen. Er hatte sich in seiner Ehe eine Umständlichkeit angewöhnt, die er für ehelichen Anstand hielt und mit peinlicher Pünktlichkeit ausübte. Vor einem Gang von einer halben Stunde verabschiedete er sich oft fünf bis sechs Mal; denn erst jenem Lebewohl, hinter dem er wirklich verschwand, schrieb er volle Gültigkeit zu.
    Auf der Treppe fühlte er plötzlich, daß er noch eine größere Summe Geldes etwa 900 Mark bei sich trage, die heute fällig geworden waren. Und schon wollte er dieses Geld zurückbringen, als ihm einfiel, daß er, erst wieder im Zimmer und bei seiner Frau, überhaupt nichtmehr ausgehen würde, aus Unentschlossenheit, aus Bequemlichkeit oder aus sonst welchen naheliegenden Gründen. Und ausgegangen sollte doch nun mal werden. Es war schließlich nicht weiter gefährlich eine halbe Stunde mit diesem Gelde in der Allee spazieren zu gehen. So trat Herr Ostermann aus dem Hause.
    Vom Fenster aus sah seine Frau ihm nach, wie er leicht, mit dem Stock spielend, die dämmernde Häuserreihe entlang ging und in eine Seitengasse einbog, die zur ›Allee‹ führte. Sie war ein wenig beunruhigt. Albrecht, der doch nie etwas ohne sie unternahm, hatte sich so unerwartet zu diesem Gang entschlossen, der nicht genügend motiviert schien. Trotzdem hatte die Dame kein Mißtrauen. Sie wußte, daß ihr Mann der beste und ehrlichste Mensch ihr gegenüber war und seit Jahren nur eine Leidenschaft hatte: ihre Ehe blank zu erhalten wie einen Metallspiegel, darin zwar keine Konturen der Dinge sich abzeichneten, aber in dessen fleckenloser Fläche immer blendend das Abbild der Sonne blieb. Nur im Anfang dieser Verbindung hatte es Unklarheiten

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