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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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schon einmal irgendwo gesehen haben muß. Er strengt sich an: Wo hab ich ihn doch? … Oho, der Mann glaubt wohl zu sprechen? Er bewegt so den Mund. Aber er irrt sich. Es ist totenstill (Erhard kann es beschwören), totenstill. Und gleich darauf weiß er: jetzt muß man sterben, natürlich. Es ist ja auch weiter nicht von Bedeutung. Das ist ja nur eine Zwischenstation, ein …
    Ein Schrei, hell, schrecklich, stört ihn. Aha denkt er jetzt hat er sie erschlagen. Wen? das zu überlegen fehlt ihm Zeit. Denn der große Mann schwillt, Tür, Wand, alles das ganze Zimmer ist der Mann mit dem roten Kopf.
    Wieder Angst, eine Sekunde, nur eine Sekunde, dann ist der Mann wieder kleiner, verhältnismäßig, und das wirkt ungemein beruhigend. Allerdings, er hebt einen Gegenstand ein Fall, tief, tief und Sterne, Millionen Sterne
    Aber langsam, fernher wieder ein Gedanke, ja sogar ein Gespräch: Erhard Stilfried sagt in diesem Gespräche zu jemandem: »Es ist etwas völlig Belangloses, ein paar Stunden, ich könnte ebensogut schlafen «
    Und wieder ein Fall, furchtbar.
    Und kein Gedanke mehr.

Vitali erwachte …
(1900)
    Vitali erwachte. Er konnte sich nicht erinnern, ob er geträumt hatte. Aber er wußte, daß ein Flüstern ihn weckte. Unwillkürlich sah er nach der Uhr. Es war wenig nach vier. Durch die Dämmerung des Zimmers ging ein gleichmäßiges Hellwerden. Er erhob sich und trat in seiner weißen wollenen Schlafkutte, die ihm das Aussehen eines jungen Mönches gab, ans Fenster. Da lag der kleine Garten vor ihm still und leer. Es mußte nachts geregnet haben. Durch schwarze kahle Äste sah man den dunklen Boden, der schwer und satt schien, als ob die Nacht, flüchtend, in ihn zurückgesunken wäre, statt sich zu den Himmeln zu erheben. Die Höhen waren öde, umwölkt und von hohen Winden bewegt. Aber als Vitali den Blick ziellos über die Wolken zog, hörte er wieder das Flüstern, und jetzt erst wußte er, daß das frühe ferne Lerchen sind, die den Morgen feiern. Ihre Stimmen waren überall, fern und nah, wie aufgelöst in der lauen tauenden Luft, so daß man sie mehr mit dem Gefühl empfing, als mit dem Ohr. Und er begriff mit einem Male, daß diese Stunde voll Stimmen mit keinem Namen zu nennen ist und auf keiner Uhr abzulesen. Daß noch nicht Morgen ist und nicht mehr Nacht. Er näherte sich mit seinem Gefühle dem Garten unter den Fenstern, als ob er sein Gesicht nun besser verstünde; und er erkannte, den er früher nicht bemerkt hatte, den starken Strauch, auf dessen Ästen, groß wie kleine Vögel, Knospen saßen und warteten. Und Alles da unten war Erwartung und Geduld. Die Bäume und die kleinen runden Beete, die man schon vorbereitet hatte auf etwas Neues, erwarteten den Tag von den Himmeln, und zwar keinen sonnigen, strahlenden Tag, einen Tag, aus dem der Regen fiel, ohne sich wehzutun, weil alles in der Natur Hand ward, die ihn empfing. So rührend geduldete sich der kleine Garten. Vitali aber sagte laut über ihn hin: Wie durch ein gotisches Fenster schaue ich. Dann trat er zurück und ging mit ruhigen Schritten zu seinem Lager. Willig nahm er den Schlaf auf sich. Er hörte aber noch, wie draußen ein großer Regen begann und rauschte.

Aus einem Mädchenbrief
(1900)
    Riva am Gardasee, im April.
    … Als alle zu Bette waren, stand ich leise auf und öffnete mein Fenster. Es klirrte nicht, wie alle Fenster zuhaus. Sachte drehte es sich in den Angeln, nicht von meinen Händen nach innen bewegt, eher aufgedrängt von dem Dufte, der sich davor angesammelt hatte. Wie eine Knospe tat sich dieses Fenster auf … seine Flügel lösten sich von einander wie harte unscheinbare Deckblätter, und nun sah ich in die Tiefe der Blüte hinein, in den dunklen, von unzähligen Blättern verheimlichten Blumenkelch der Nacht.
    Das also heißt: »reisen«, Helene. Was für ein einfacher Titel steht auf diesem Märchenbuche, dessen erste Seite in meinen Händen rauscht, weil ich zögere sie umzuwenden in meiner alten kindischen Wunderfurcht. Das also heißt nur reisen. Man müßte einen anderen Namen dafür erfinden, nicht? Hilf mir einen ersinnen, Liebe. Oder besser noch: hilf mir ihn verschweigen, wenn ich ihn unvermutet entdecken sollte jetzt oder im Traume. Was ist Traum? Was waren alle Träume, die wir uns erzählt haben an den langen Nachmittagen, wenn wir durch die Zimmer gingen, untätig, langsam, ganz beschäftigt mit unserer Müdigkeit? Selbst Deine Träume, meine liebe Helene, obwohl sie die meinen immer weit an Pracht

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