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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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den Sinn, daß er ja heute für vier Monate zum letzten Mal solcher Genüsse sich erfreuen würde, und dann ward er ein wenig still und seufzte ganz leise. Aber der sonnige, fröhliche Sommertag verfehlte seine Wirkung auf das Kindergemüt nicht, und er schwatzte bald wieder in übermütiger Weise fort und durchdachte die schönen Tage des schwindenden Urlaubs. Jetzt war es zwei Uhr mittags. Um sieben Uhr mußte er in der Kaserne sein also noch fünf Stunden. Fünfmal also mußte der große Zeiger noch rund ums Zifferblatt laufen das ist ja noch sehr, sehr lange.
    Das Essen war vorüber. Pierre hatte tüchtig zugesprochen. Nur als die Mutter ihm den roten Wein einschenkte, mit nassen Augen ein wenig das Glas hob und ihn bedeutungsvoll anschaute, da blieb ihm der Bissen in der Kehle stecken. Sein Blick wanderte durchs Zimmer. Auf dem Zifferblatt blieb er haften: es war drei Uhr. Viermal muß der Zeiger … dachte er. Das gab ihm Mut. Er hob seinen Kelch und stieß etwas heftig an. »Auf recht frohes Wiedersehen, Mütterchen!« Seine Stimme klang hart und verändert. Und rasch küßte er, als fürchtete er wieder weich zu werden, die kleine Frau auf die bleiche Stirne.
    Nach dem Essen gingen sie selbander am Flußufer auf und nieder. Wenig Leute begegneten ihnen. Sie konnten ganz ungestört miteinander sprechen. Aber das Gespräch stockte oft. Pierre trug den Kopf hoch, hielt beide Hände in den Hosentaschen und schaute mit großen, blauen Augen geistesabwesend hinüber über den glastenden Fluß auf die violetten Hänge des jenseitigen Ufers. Frau Dumont aber bemerkte, wie in der Allee, welche sie durchschritten, die Blätter schon gelb und matt wurden. Hie und da lagen sogar schon welche auf dem Wege; als eines unter ihrem Fuße knirschte, erschrak sie.
    »Es wird Herbst«, sagte sie leise.
    »Ja«, murmelte Pierre zwischen den Zähnen.
    »Aber wir haben einen schönen Sommer gehabt « fuhr Frau Dumont fast verlegen fort.
    Ihr Sohn antwortete nicht.
    »Mutter«, er wandte ihr das Gesicht nicht zu, während er so sprach, »Mutter, der lieben Julie sagst du meine Grüße nichtwahr.« Er verstummte und ward rot.
    Die Mutter lächelte: »Du kannst dich darauf verlassen, mein Pierre.« Julie war ein Cousinchen, für das der kleine Kavalier schwärmte. Er hatte ihr oft Fensterpromenaden gemacht, hatte mit ihr Ball gespielt, ihr Blumen geschenkt und trug das wußte nicht einmal Frau Dumont Cousinchens Bild in der linken Brusttasche des Waffenrockes.
    »Julie kommt ja gewiß auch außer Haus«, meinte die Mutter, froh, den Kleinen auf dieses Thema gebracht zu haben. »Sie kommt zu den Englischen Fräuleins oder Sacrecœur …« Die Witwe kannte ihren Pierre. Der Umstand, daß die Angebetete ein ähnliches Los ertragen sollte, tröstete ihn, und er machte sich im Stillen Vorwürfe über seine Kleinmütigkeit. Mit kindischer Phantasie übersprang er die bevorstehenden Schulmonate:
    »Aber wenn ich zu Weihnachten nach Hause komme, wird Julie doch auch da sein!?«
    »Gewiß. «
    »Und du wirst sie einladen, bestes Mamachen, am Weihnachtsabend, ja?«
    »Sie hat mir schon im vorhinein zugesagt und mir versprechen müssen, daß sie sich recht lange bei ihrer Mutter ausbittet.«
    »Herrlich!« jubelte der Knabe, und seine Augen glänzten.
    »Dir werd ich einen schönen Christbaum vorrichten, und wenn du sehr brav bist …«
    »Am Ende … die neue Uniform!«
    »Wer weiß, wer weiß « lächelte die kleine Frau.
    »Herzensmütterchen!« rief der junge Held und scheute sich nicht, mitten auf dem Promenadenweg Frau Dumont stürmisch zu küssen, »du bist so gut! …«
    »Sei nur fein brav, Pierre!« sagte die Mutter ernst.
    »Und wie! Lernen will ich …
    »Mathematik, weißt du, das geht dir schwer!«
    »Es wird Alles ganz trefflich werden, du wirst sehen.«
    »Und daß du dich nicht verkühlst, jetzt kommt die kältere Jahreszeit, zieh dich nur immer warm an. Nachts steck dir die Decke wohl ein, damit du dich nicht abdeckst!«
    »Ohne Sorge, ohne Sorge!« Und Pierre begann wieder von den Begebnissen des Urlaubs zu reden. Da gabs so viel des Drolligen und Spaßhaften, daß beide, Mutter und Sohn, herzhaft lachten … Plötzlich fuhr er zusammen. Vom Kirchturm wogten volle Glockentöne.
    »Sie läuten sechs«, sagte er und versuchte zu lächeln.
    »Komm zum Zuckerbäcker.«
    »Ja, dort gibt es die guten Cremerollen. Zum letzten Mal aß ich sie, als wir den Ausflug machten mit Julie …«
    Pierre saß auf dem dünnbeinigen

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