Charles
1. KAPITEL
D as war also Hard Luck.
Lanni Caldwell schwang sich ihren Rucksack über die Schulter, hob ihren Koffer hoch und ging über die unbefestigte Straße auf den Wohnwagen zu, in dem sich das Büro von Midnight Sons befand. Während der letzten Woche war mehrmals in den Medien über die kleine Charterfluggesellschaft berichtet worden, die Flüge ins Landesinnere von Alaska anbot, und Lanni hatte die Berichte und Reportagen mit wachsender Neugier verfolgt. Das Ganze war wirklich sehr interessant. Offenbar hatten die Inhaber von Midnight Sons eine Aktion ins Leben gerufen, um Frauen nach Hard Luck zu locken, indem sie ihnen einen Job und eine Unterkunft anboten.
Solch einen verrückten Plan konnte sich nur ein Haufen einsamer Buschpiloten ausgedacht haben! Ein paar allein stehende Frauen waren bereits nach Hard Luck gekommen, und schon bald würden noch mehr eintreffen. Die Fernsehreporter in den anderen Staaten bezeichneten sie als „Versandhausbräute“ – was sie natürlich nicht waren – und sprachen von Hard Luck als dem „eisigen Norden“. Auch das traf nicht zu – zumindest nicht im Juni.
Der Himmel war strahlend blau, und es war angenehm warm. In der Tundra blühten die Blumen in allen erdenklichen Farben.
Lanni, die in Anchorage aufgewachsen war, war bereits als Kind einmal in Hard Luck gewesen. Dies war auch das einzige Mal gewesen, dass sie über den Polarkreis hinausgekommen war. Trotzdem erschien ihr die Umgebung vertraut, denn ihre Großmutter Catherine Fletcher hatte ihr oft von dem Ort und dem Leben dort erzählt. Lanni erinnerte sich noch genau daran, wie sie auf ihrem Schoß gesessen und ihren abenteuerlichen Schilderungen gelauscht hatte. Doch im Lauf der Jahre hatte sie ihre Großmutter immer seltener gesehen.
Da Catherines Gesundheitszustand sich zunehmend verschlechterte, war es vielleicht die letzte Gelegenheit für Lanni, etwas über das Leben ihrer Großmutter hier zu erfahren. Deshalb hatte sie sich wohl auch dazu bereit erklärt, den Sommer in Hard Luck zu verbringen. Ab September sollte sie als Redaktionsassistentin bei der Tageszeitung von Anchorage arbeiten. Nach vier Jahren College würde ihr Traum, als Journalistin zu arbeiten, endlich wahr werden, und Lanni war klar, wie viel Glück sie gehabt hatte, als sie die Stelle bekommen hatte.
Am Anfang des Monats hatte Sawyer O’Halloran ihre Mutter Kate angerufen. Kate war überrascht und auch ein wenig verärgert gewesen, von den O’Hallorans zu hören, was Lanni nicht genau verstand. Sie hatte nie die Gründe für die Fehde zwischen ihrer Großmutter und den O’Hallorans erfahren, weil man in ihrer Familie nie darüber gesprochen hatte.
Sawyer O’Halloran hatte ihrer Mutter erklärt, dass man in Hard Luck dringend Unterkünfte brauche, da so viele Frauen in die Stadt kommen würden. Dann hatte er sie gebeten, Catherine zu fragen, ob diese ihr Haus vermieten würde, das seit einiger Zeit leer stand.
Lanni wusste nicht, ob ihre Mutter mit ihrer Großmutter darüber gesprochen hatte. Doch seit Catherine Fletcher in das Pflegeheim in Anchorage gekommen war, hatte ihr Zustand sich noch mehr verschlechtert. Daher wäre es wohl das Beste gewesen, sie überhaupt nicht zu fragen.
„Hallo.“ Ein sommersprossiger Junge hielt mit seinem Fahrrad neben Lanni und lächelte sie an. Der große Husky, der ihn begleitete, nahm Platz und schaute sie freundlich an.
„Kommen Sie zur Hochzeit?“ fragte der Junge.
„Zur Hochzeit?“ wiederholte Lanni.
„Ja, meine Mom heiratet Sawyer O’Halloran, und eine Menge Leute kommen zu der Hochzeit nach Hard Luck. Ben macht dafür seine berühmten Hackbällchen, und er hat Susan und mir erlaubt, ihm dabei zu helfen.“
„Ben?“
„Ihm gehört das Hard Luck Café. Sie sind keine Reporterin, oder?“
„Nein.“
„Da haben Sie Glück. Sawyer hat nämlich gesagt, dass er den Reportern am liebsten in den Hintern treten würde.“
Lanni musste lachen. Dies war offenbar nicht der geeignete Moment, um dem Kleinen zu erzählen, dass sie bald ihr Publizistikstudium abschließen würde. „Ich bin Lanni Caldwell“, sagte sie daher.
„Scott Sutherland.“ Der Junge grinste. „Sie sind bestimmt die Frau, auf die Sawyer die ganze Zeit gewartet hat. In letzter Zeit war er ziemlich kaputt.“
Obwohl niemand ihr gesagt hatte, dass sie sich bei den O’Hallorans anmelden sollte, konnte es nicht schaden, sich vorzustellen. Schließlich hatte sie es ihnen zu verdanken, dass sie nach Hard Luck
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