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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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seine groben Manieren, seinen schleppenden Akzent, seine dicke Haut, wusste, dass er nie Verlangen nach ihr haben würde. Er verkörperte die Negierung der Welt, nahm sich selbst nicht ernst und erfreute sich einer dieser ketzerischen Reputationen, die man gewöhnlich Betrügern und Ehrgeizigen zuschrieb. Dass ihre Liebe unerwidert blieb, damit kam Adeline zurecht. Nie würde ihn eine Frau beglücken, und die Männer wussten nichts von Gefühlen. Der Duft des Skandals schürte ihre Leidenschaft. Obgleich sie ahnte, dass sie ihn nicht durch eine Liebe an sich binden konnte, die mit der ihren zu vergleichen war, so wollte Adeline doch sein Vertrauen und seine Zärtlichkeit gewinnen, ihm zeigen, dass er in ihr eine treue Partnerin hatte. Im Gegenzug würde Gaspard sie durch seine Anwesenheit erfüllen, der Langeweile entreißen, zu der ihr Name sie verurteilte. Sie würde in der Welt als freie Frau in Erscheinung treten. Die zerknirschten Gesichter ihrer Eltern bei der Hochzeitsfeier hatten ihren Triumph besiegelt. Sie betrachtete den Mond, der durch das Fenster über den Körper ihres Gemahls glitt. Das bläuliche Gesicht erfüllte ihr Herz mit Dankbarkeit. Er schnarchte gleichgültig und überließ Adeline mit ihren ernüchternden Gedanken sich selbst. Sie zog sich bedächtig aus. Hatte er sich Zeit genommen, sie schön zu finden? Hatte er gedacht, sie könnte für einen anderen begehrenswert sein? Sie löste ihre Haare und glitt unter das Laken.
    Die Trunkenheit gab der Welt neue Konturen. Gaspard spürte, wie Adeline sich neben ihm ausstreckte, und musste an Emma denken. Eine Abneigung erfasste ihn, und er bemühte sich, die Angst zu zerstreuen, sie könne neben ihm liegen. Emma war tot, die Verwesung hatte ihr Recht geltend gemacht, es gab keinen Grund, dass sie in seinem Bewusstsein herumspukte. Adeline rührte sich nicht; Gaspard spürte den Geruch ihrer Haut, ihrer Achseln. Sie berührte ihn nicht, und diese Distanz zwischen ihnen war in Gaspards schwindeligem Zustand unermesslich. Seine Gedanken schweiften zu Etienne, zu seinem Handschlag auf der Kirchentreppe. Der Schleppe von Adeline an seinem Arm entstiegen Weihrauchspiralen. Die Sonne fiel auf ihre Gesichter, überflutete den Applaus der Menge. Gaspard führte eine Hand zur Stirn, um das Gesicht des Comte Etienne de V. zu sehen. Adelines Anwesenheit in diesem Bett verletzte seine Intimität, die Unversehrtheit seines Körpers. Dieser Körper gehörte Etienne, auch wenn Gaspard ihn nie mehr entblößen würde. Dieser abstoßende und verfallene Körper bestürzte ihn, sodass er sich stets in aller Eile anzog. Er würde dem Grafen diesen schändlichen Leib, seine Verstümmelungen nicht zumuten. Die Wunde verheilte nicht mehr, der Schmerz blieb bestehen. Er verfluchte dieses Fleisch, seinen zunehmenden Verfall. Jeder Schritt Gaspards in der Gesellschaft brachte ihn seiner Ambition näher und veränderte die Wahrnehmung seines Körpers. Er widerte sich an, hasste die Kanten seiner Knochen unter den Muskeln, die Weichheit seiner Haut, die Aufteilung seines Fleisches. Wenn sich ein begehrlicher Blick auf ihn legte, drehte sich ihm der Magen um: Niemand durfte für seine Missgestalt Anziehung empfinden. Er war ständig von der Angst verfolgt, aus seinem Bauch die Schwärze, den Schandfleck von Quimper hervorkriechen zu sehen. Der Alkohol machte seine Abwehr zunichte, ließ die Abneigung gegen seinen Körper und gegen die Nähe Adelines versickern. »Fass mich an«, sagte er unvermittelt. Seine Frau erzitterte, legte eine Hand auf seine Brust, aber diese Berührung, die Lust verriet, ehrte seinen Körper noch immer zu sehr, und Gaspard öffnete wütend die Knöpfe seines Hemdes, zerriss den Stoff des Justaucorps, packte Adeline am Handgelenk. Die Hand versteifte sich, suchte sich der Umklammerung zu entziehen, doch er drückte sie auf seinen Bauch. »Leg deine Hände auf mich!«, wiederholte er verzweifelt. Adeline wollte sich abwenden, stieß Gaspards Oberkörper von sich, doch seine Muskeln waren hart wie Stein und zwangen sie, die Finger zu spreizen, ihre Handfläche auf seinen Bauch zu legen. Er fühlte sich an wie eine schwammige, unförmige Masse. Gaspard erschauderte vor Schmerz, und Adeline senkte den Blick. Das schwache Licht im Zimmer reichte, um den Bauch zu sehen, die Schwellungen, die eitrigen Schnitte. Manche Wunden waren notdürftig verbunden, mit schwärzlicher Gaze verstopft, und sie konnte nicht sehen, wo der Stoff aufhörte und die Haut anfing.

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