Die ewige Bibliothek
Angesichts der Tatsache, dass er eine dreihundert Kilometer lange Rundreise an einem Tag durchhalten konnte und danach immer noch Zeit für ein gemütliches Abendessen und eine Vorlesung fand, machte sich auch darüber niemand lustig.
Den größten Teil seiner beruflichen Laufbahn hatte er als Philosophielehrer an verschiedenen Gymnasien verbracht. So sehr ihn das auch persönlich erfüllt hatte, war es doch nicht mit dem wechselseitigen Gewinn zu vergleichen, den ihm eine Hochschule bot, oder mit der Möglichkeit, Feldforschung zu betreiben und zu publizieren, wie sie ihm an der Universität Wien geboten wurde. Sein offizieller Titel – den er sich spontan ausgedacht hatte, als man ihn fragte, für welche (noch zu gründende) Abteilung er sich bewerben wolle – lautete »Gastprofessor für Ältere Literatur und Geschichte«. Aber niemand nannte ihn jemals so. Michael war nie ein großer Freund von Förmlichkeiten gewesen; die meisten seiner Studenten nannten ihn beim Vornamen, und diejenigen, die ihn besser kannten, nannten ihn »Langbein«.
Die Universität war die älteste im deutschsprachigen Raum und setzte sich aus acht Fakultäten zusammen, die sich in zweihundertzweiundsiebzig Abteilungen aufgliederten. Die festgesetzte Konferenz bezog mehr Verwaltungsbeamte mit ein, als in einer gewöhnlichen Abteilungsbesprechung konsultiert wurden, denn Michael hatte es geschafft, innerhalb von drei Jahren mehr Gelder anzufordern und auszugeben, als jedes andere Institut der gesamten Fakultät, mit Ausnahme der Fakultäten für Naturwissenschaften und Medizin.
Das Institut für Ältere Literatur und Geschichte (niemand hatte einen anderen Namen vorgeschlagen) konzentrierte diese Mittel normalerweise auf den Erwerb von Handschriften – sehr, sehr alten Handschriften. Nicht einfach alte und brüchige viktorianische Romane – Manuskripte, die aussahen, als habe man sie überstürzt in Christie’s Auktionshaus ersteigert –, sondern Handschriften, auf die man durch Untersuchungen und Feldforschungen stieß, die Indiana Jones wie einen Stümper hätten aussehen lassen. Der größte Teil rangierte in einer Kategorie mit Noahs Merkzettel oder Konstruktionsplänen für den Turmbau zu Babel, die natürlich aus vom Kriegsrecht regierten Ländern »exportiert« werden mussten, für Beträge, die dem Jahresbudget eines mittelgroßen Dritte-Welt-Landes nahe kamen.
Das Hauptproblem bei Anschaffungen dieser Art bestand darin, dass sie in den Bereich der Grundlagenforschung fielen. Was nicht weiter schlimm gewesen wäre, hätte man sie nicht mit Hilfe von Summen erworben, die sich der Fünf-Millionen-Grenze näherten. Man konnte sie bestenfalls als gegenstandsbezogene Forschung rechtfertigen, doch die diesbezüglichen Budgeteinschränkungen waren noch schlimmer. Um seine Argumentation für eine weitere Finanzierung wirklich zu untermauern, musste Michael zumindest nachweisen, dass die Anschaffungen als Hilfsmittel für die angewandte Forschung nutzbar seien, oder noch besser, dass sie von einer anderen Abteilung im Rahmen der interdisziplinären Forschung verwendet werden könnten. Leider hatte er keine Ahnung, wie er auch nur eine dieser Forderungen erfüllen sollte.
Michael hatte hinsichtlich seines schnellen und lockeren Spiels mit dem Mammon der Universität immer wieder mäßigende Briefe erhalten – stets kurz vor einer offiziellen Zurechtweisung. Doch er nahm an, dass der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, wohl das Aethelberht-Schriftstück gewesen war.
Der westsächsische Aethelberht war Anfang der siebziger Jahre des neunten Jahrhunderts König von England gewesen. Er hatte die Nachfolge seines in ästhetischer Hinsicht gleichermaßen namensgestraften Vaters Aethelbald und seines Großvaters Aethelwulf angetreten. (Wie so oft bei Kindern mit unglücklich gewählten Namen, verspürte auch Aethelberht traurigerweise das Bedürfnis, die von väterlicher Seite geerbte Folter seinem eigenen Sohn aufzuerlegen. Er nannte ihn Aethelred. Aethelred wollte sich damit allerdings nicht abfinden, und nannte seinen Sohn der Familientradition zum Trotz Alfred.)
Michael nannte es das Aethelberht-Schriftstück. Eigentlich war es eine aus Schafshaut hergestellte Pergamentrolle, die in den Ruinen einer Moschee auf Zypern entdeckt worden war. Das archäologische Team, das die Ausgrabung leitete, vermutete, dass das Schriftstück etwa dreihundert Jahre nach Aethelberht auf die Insel gebracht worden war, nur
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