Die ewige Bibliothek
ausgeschnittene Artikel sei nicht von ihr gewesen. Vor über zehn Jahre hatten sie das letzte Mal miteinander gesprochen, und er freute sich stets auf den flüchtigen – wenn auch unzureichenden – Kontakt, den ihm das Verfolgen ihrer Karriere ermöglichte.
Am Dienstag wurden achtundzwanzig Studenten aus verschiedenen Fachbereichen der Universität Wien – an der Michael als Gastprofessor für Ältere Literatur und Geschichte arbeitete – bei Trepanationsexperimenten überrascht, was bedeutet, dass sie Löcher in ihre Schädel bohrten. Jemand hatte ihnen offensichtlich die fixe Idee in den Kopf gesetzt, der uralte Glaube, man könne durch das Anbohren des eigenen Schädels sein Bewusstsein befreien, werde sich als zulässige Lernhilfe erweisen. Die Fakultät war anderer Meinung, ebenso die Behörden, die den ganzen Haufen festnahm. Später mussten sie alle Achtundzwanzig wieder freilassen, weil sie kein Gesetz fanden, das die grausige Unsitte verbot.
Direkt im Anschluss organisierten die soeben auf freien Fuß gesetzten Trepanierer eine spontane Demonstration und feierten die Rechte der Studenten. An die siebzig weitere Studenten wollten den neusten heißen Trend nicht verpassen und bohrten sich im Verlauf der Veranstaltung ebenfalls Löcher in ihre Köpfe.
Am Mittwoch wurden über das ganze Universitätsgelände verstreut dreizehn Leichen gefunden – Opfer von erfolglosen Trepanationsversuchen.
Am Donnerstag ertappte man rein zufällig einen stellvertretenden Verwaltungsangestellten der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und Informatik dabei, wie er einen dünnen Eisenstab in den Schädel einer Studentin hämmerte, die zum Unterricht gejoggt war. Der ziemlich aufgebrachte und wutschäumende Mitarbeiter wurde festgenommen. Dabei kam ans Licht, dass er schon immer den Wunsch gehegt hatte, ein Serienmörder zu werden und in der jüngsten Begeisterung der Studenten für Trepanation die perfekte Gelegenheit erblickt hatte, seinen Horizont zu erweitern. Bis zum Abschluss der offiziellen Ermittlungen wurde er – bei fortlaufender Gehaltszahlung – seines Amtes enthoben.
Am Freitag verfielen zwei Seminarleiter der Fakultät für Katholische Theologie unvermittelt in Trance und wurden zu Medien für die Geister zwanzigtausend Jahre alter Magier, die behaupteten, in Atlantis gelebt zu haben. Sie gerieten in Streit, woraufhin einer der Magier seinen Wirtskörper verließ und seinen Wohnsitz in den Vizerektor der Fakultät für Protestantische Theologie verlegte. Der Vizerektor (und Magier) erklärte den Katholiken daraufhin den Krieg, und einige gespannte Stunden lang schien es, als würde sich der gesamte Campus selbst zerstören – bis ein dritter atlantischer Magier von einem der Professoren für Soziologie Besitz ergriff und damit drohte, die Mormonen ins Spiel zu bringen, was den gesamten Konflikt innerhalb von Minuten beendete.
Am Samstag Morgen rückte jeder Gegenstand in Michaels Wohnung um das Fünftel eines Zentimeters nach links, und er verbrachte den Rest des Tages damit, abzustauben und alles wieder an seinen Platz zu schieben.
Am Sonntag rutschte jeder Gegenstand in seiner Wohnung ein Stück nach rechts, und er vermutete, dass dies keine spiegelverkehrte Wiederholung des Ereignisses vom Vortag war, sondern dass sich der erste Vorfall lediglich rückgängig gemacht habe. Spuren im Staub hatten ihn die erste Bewegung erkennen lassen, obwohl er sie nicht mit angesehen hatte.
Er beobachtete die zweite, als er gerade im Begriff war, eine Teetasse zurück auf ihre Untertasse zu stellen. Die Teelache verursachte einen großen Fleck auf seinem Teppich; von der Eingangstür aus hatte er Ähnlichkeit mit einer Kuh oder einem großen Hund mit einem Lymphdrüsenleiden.
Aus einem Impuls heraus beschloss Michael, seine Tochter anzurufen, nur um nach einem sehr kurzen und wie üblich angespannten Gespräch mit ihrer Großmutter herauszufinden, dass sie von einem Tag auf den anderen beschlossen hatte, in die Vereinigten Staaten zu ziehen. Michael schleuderte das Telefon zum Fenster hinaus und ging ins Bett.
Nun war wieder Montag, und die seltsamen Ereignisse der letzten Woche schienen allem Anschein nach Überstunden einzulegen (wenn auch auf weit unauffälligere Weise). Michaels Seminare verliefen ohne Zwischenfall, doch als er nach Hause kam, fand er im Arbeitszimmer seiner Wohnung einen kleinen pflaumenfarbenen Umschlag vor, der geduldig inmitten des wuchernden Papierwaldes auf seinem Schreibtisch
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