Roulette des Herzens
Kapitel 1
Die einsame Frau stand im Schatten, lehnte sich an die Wand der schäbigen Pension und ließ die Schultern hängen, als sei sie krank. Derek Craven kam aus der in der Seitengasse gelegenen Spielhölle und musterte die Frau. In London, besonders in den Elendsquartieren, wo man auf menschliches Leid in allen Stadien traf, war ein solcher Anblick nichts Ungewöhnliches. In diesem nur eine kurze Strecke vom eleganten St. James entfernten Viertel waren die Häuser verwahrlost, schmutzig und dem Verfall preisgegeben. Bettler, Taschendiebe, Betrüger und Huren hielten sich hier in Massen auf, Leute wie Derek Craven.
Hier traf man nicht auf anständige Frauen, erst recht nicht nach Anbruch der Dunkelheit. Die Frau war eigenartig gekleidet, falls sie dem leichten Gewerbe nachging. Unter dem grauen, vorne offenen Mantel sah man ein hochgeschlossenes, aus dunklem Stoff geschneidertes Kleid. Die Locke, die unter der Kapuze hervorlugte, hatte eine unbestimmbare braune Farbe. Es war möglich, dass die Frau auf ihren Mann wartete. Vielleicht war sie auch eine Verkäuferin, die sich verlaufen hatte.
Die Leute schauten sie nur flüchtig an und gingen rasch an ihr vorbei. Falls sie noch länger verweilte, würde sie bestimmt bestohlen, geschlagen oder vergewaltigt werden. Und dann ließ man sie liegen, weil man sie für tot hielt.
Für einen Gentleman hätte es sich geschickt, zu ihr zu gehen, sie nach ihrem Befinden zu fragen und Sorge um ihr Wohlergehen auszudrücken.
Derek war jedoch kein Gentleman. Er wandte sich ab und ging weiter über den kaputten Bürgersteig, In diesen Straßen war er aufgewachsen, geboren in der Gosse, in der Kindheit von heruntergekommenen Huren ernährt, in der Jugend von Verbrecherpack aller Art erzogen. Er war mit den Listen vertraut, die man anwandte, um ahnungslose Opfer zu überfallen, kannte den richtigen Augenblick für den Angriff und wusste, wie man jemanden außer Gefecht setzte. Bei solchen Unternehmungen wurden Frauen oft als Lockvögel, Wachtposten oder sogar Angreiferinnen benutzt. Eine weiche Frauenhand konnte großen Schaden anrichten, wenn sie einen Eisenstab oder einen mit einigen Pfund Blei gefüllten Strumpf hielt.
Derek wurde sich des Geräusches ihm folgender Schritte gewahr. Sogleich hatte er ein ungutes Gefühl. Den Schritten nach zu urteilen, mussten zwei Männer hinter ihm sein. Er beschleunigte absichtlich sein Tempo, und die Männer passten sich ihm an. Sie verfolgten ihn. Vielleicht hatte Ivo Jenner, sein Rivale, sie geschickt, damit sie ihn überfielen. Im stillen fluchend, strebte er um eine Häuserecke.
Wie erwartet, wurde er von ihnen angegriffen. Geschickt duckte er sich vor einem Fausthieb. Seinen Instinkten und jahrelanger Übung folgend, verlagerte er das Gewicht auf ein Bein und trat mit dem anderen zu. Mit voller Wucht traf er einen der Angreifer in den Bauch. Der Mann schnappte ächzend nach Luft und torkelte zurück. Derek wirbelte herum und wollte den anderen außer Gefecht setzen. Es war jedoch bereits zu spät. Er verspürte im Rücken einen harten mit einem metallenen Gegenstand ausgeführten Stoß und einen ihm die Sicht raubenden Schlag auf den Kopf. Benommen stürzte er zu Boden. Die beiden Männer machten sich über ihn her.
»Rasch!« sagte einer von ihnen in gedämpftem Ton. Derek merkte, dass man ihm den Kopf zurückbog. Er schlug mit der Faust zu, doch jemand drückte ihm den Arm herunter. Er bekam einen brennenden Hieb quer über das Gesicht. Ihm dröhnten die Ohren. Warme Feuchtigkeit drang ihm in die Augen und in den Mund – sein Blut.
Stöhnend versuchte er, sich den Angreifern zu entwinden. Aber alles geschah zu schnell. Er konnte sich ihrer nicht erwehren. Er hatte stets Angst vor dem Tod gehabt. Irgendwie hatte er geahnt, dass er ihn auf diese Weise ereilen werde, nicht unter friedlichen Umständen, sondern verbunden mit Schmerzen und Gewalt und Dunkelheit.
Sara hörte auf, die Informationen durchzulesen, die sie bis jetzt gesammelt hatte. Angestrengt durch die Brille lugend, wunderte sie sich über die neuen Jargonausdrücke, die sie an diesem Abend gehört hatte. Von Jahr zu Jahr veränderte sich die Umgangssprache, und das faszinierte Sara. Sie lehnte sich, um ungestört zu sein, an die Hauswand, vertiefte sich in die Notizen und nahm mit dem Bleistift einige Korrekturen vor. Die Spieler hatten vom Kartenspiel als ›Zocken‹ gesprochen und gewarnt, auf ›Polypen‹ zu achten, womit möglicherweise Polizisten gemeint
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