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Die Fäden des Schicksals

Die Fäden des Schicksals

Titel: Die Fäden des Schicksals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Bostwick
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Kunstliebhaber, der einen Schritt zurücktritt, um ein Gemälde besser auf sich wirken zu lassen, ging auch ich ein Stück rückwärts, bis ich gegen einen Schrank mit Duschvorhängen stieß. An ihm ließ ich mich langsam zu Boden gleiten, schlang die Arme um die hochgezogenen Knie und machte mich ganz klein. Vollkommen still hockte ich dort, hörte nichts und sah nur diese Farben vor mir, die ihre Pracht ganz allein für mich entfalteten.
    Bis zu ihrem letzten Tag vergaß meine Mutter, wann immer sie die Geschichte erzählte, nie, ihre wachsende Panik zu erwähnen. Dann beschrieb sie, wie zahlreiche Verkäufer und Kunden die Gänge, Umkleidekabinen und Lagerräume nach mir durchkämmten, und schließlich, wenn sie ihre unsagbare Erleichterung schilderte, als ein Verkäufer für Spülmaschinen mich endlich fand, presste sie stets die Hände an die Brust, als schlüge ihr noch immer das Herz bis zum Hals. »Evelyn«, pflegte sie dann kopfschüttelnd zu sagen, »du warst immer so ein braves kleines Mädchen. Was ist damals bloß in dich gefahren?«
    Ich fand nie die richtigen Worte, um es ihr zu erklären. Für meine Mutter war die Viertelstunde, in der ich »verloren gegangen« war, die reinste Hölle gewesen, für mich dagegen das Paradies auf Erden.
    Diese Fülle an satten Farben schien zu mir zu sprechen. Es war, als ginge ich mit ausgestreckten Armen auf das Ende eines Regenbogens zu, nur um beim Näherkommen festzustellen, dass das, was ich von Weitem für bloße Lichtreflexe im Dunst gehalten hatte, in Wahrheit greifbar war, Substanz und Struktur besaß. Für mich lag etwas Tröstliches in der Art, wie die Farben in ihrer Anordnung dem Spektrum von Blau über Grün und Gelb nach Rot und wieder zurück zu Blau folgten. Besonders aufregend fand ich die Vorstellung, wie unendlich viele Kombinationen und neue Eindrücke sich ergäben, wenn man auch nur eine einzige Farbe (oder zwei oder zwanzig) von ihrem Platz entfernte und irgendwo anders wieder in die Reihen einfügte. Im Jahr 1963, als eine Schachtel Buntstifte gerade einmal vierundzwanzig Farben enthielt, war das eine Offenbarung für eine Fünfjährige.
    Es gelang mir nie, meiner Mutter zu erklären, wie wichtig mir dieser Augenblick gewesen war, auch wenn ich später verstand, was meine Mutter empfunden hatte. Mein Verschwinden erinnerte sie daran, dass man in der kurzen Spanne, die es braucht, um sich zwischen zwei Kaffeemaschinen zu entscheiden – oder sich umzudrehen oder Luft zu holen –, das, was man am meisten liebt, für immer verlieren kann. Von einem Atemzug zum nächsten kann alles anders werden.
    Vielleicht wacht man eines schönen sonnigen Morgens im Vorfrühling auf und ist glücklich. Man hat keine größeren Sorgen als die Qual der Wahl, was man dieses Jahr im Garten pflanzen soll oder welche Stoffe man im nächsten Quilt verarbeiten könnte. Und dann hat man eine Unterredung, oder das Telefon klingelt, oder der Laborbefund trifft ein, und alles, was so sicher schien, wird plötzlich infrage gestellt.
    Das habe ich am eigenen Leibe erfahren, und eine Zeit lang sah es so aus, als sollte ich an dieser Erfahrung zugrunde gehen. Doch dann wurde mir etwas klar: Das Pendel schlägt immer in beide Richtungen aus.
    Gerade noch steckt man so tief im Irrgarten der Verzweiflung, dass man die Hoffnung, jemals wieder glücklich oder auch nur zufrieden zu sein, schon fast aufgegeben hat. Und dann stolpert man mit unsicherem Schritt um die nächste Ecke und findet sich in einer völlig anderen Welt wieder. Zögernd, Schritt für Schritt, folgt man einem winzigen Gässchen mit Kopfsteinpflaster, das einem wie eine Sackgasse erscheint, biegt dann in das nächste ein – nicht hoffnungsfroh und zuversichtlich, sondern nur, weil es keinen anderen Weg gibt –, und plötzlich steht man zu seiner Überraschung in einem weiten, sonnenbeschienenen Hof, wo Topfgeranien in dichten scharlachroten Tuffs blühen und hinter Holztüren mit abgeblättertem Anstrich und rostigen Angeln die Träume schlummern.
    Von einem Atemzug zum nächsten hat sich alles verändert.
    So schrecklich und so wunderbar ist das Leben. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.

1
    Evelyn Dixon
    Später sollte ich feststellen, dass auf dem Abschnitt der Autobahn 84 zwischen New York und Connecticut ständig Stau herrscht. Doch damals um ein Uhr nachts, noch rund achtzig Kilometer von meinem Ziel entfernt, war mein Wagen der einzige weit und breit auf der leeren Straße. Erst als ich den Streifenwagen

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