Die Fahrt des Leviathan
Es erleichterte Amalie ein wenig, dass zumindest die Möwen dieses fremden Weltteils denen in der Heimat zum Verwechseln ähnelten. Das Unbekannte wurde durch kleine Einsprengsel von Vertrautem gleich viel weniger furchteinflößend.
»Guten Morgen, Fräulein von Rheine«, hörte sie eine Männerstimme von hinten.
Sie drehte sich um und sah sich dem Mitpassagier gegenüber, mit dem sie bei den Mahlzeiten im Salon den Tisch teilte. Er lüftete höflich den breitkrempigen Strohhut; in der anderen Hand hielt er das ledergebundene Notizbuch, ohne das man ihn während der gesamten Reise nie gesehen hatte.
»Guten Morgen, Herr Fontane«, erwiderte Amalie den Gruß. »Wir haben Sie beim Frühstück vermisst. Ihre Gesellschaft fehlte uns doch sehr.«
»Ich bitte um Verzeihung für meine Abwesenheit. Eine kleine Unpässlichkeit ließ es mir angeraten erscheinen, heute auf das Frühstück zu verzichten«, sagte Theodor Fontane entschuldigend. Der noch zu erahnende Nachklang grünlicher Blässe um seine Nase verriet Amalie zwar, dass die Unpässlichkeit so klein nicht gewesen sein konnte, doch sie verzichtete taktvoll darauf, sich genauer nach dem Befinden ihres Reisegenossen zu erkundigen.
Der Herr aus Berlin, der mit der kaum über den Kragenansatz reichenden Andeutung einer Künstlermähne und einem dezent an ein Walross erinnernden Schnurrbart die Attribute des Literaten zur Schau trug, hatte sich während der Reise als ebenso intelligenter wie unterhaltsamer Plauderer erwiesen. Dass er in jedem Gespräch früher oder später einen Anlass fand, die landschaftlichen Reize und die historische Vielfalt der Mark Brandenburg zu preisen, war dabei eher amüsant als befremdlich gewesen.
Er vollführte mit den Armen eine weit ausgreifende Bewegung, mit der er Meer und Himmel umfassen zu wollen schien. Jedoch wurde er sich der ungewollten Theatralik seiner Geste plötzlich bewusst, zog die Arme wieder ein und beschränkte sich auf die schlichte Frage: »Wie ist Ihr Befinden an diesem herrlichen Tag, Fräulein von Rheine?«
»Ganz exzellent. Wer könnte auch bei diesem prachtvollen Wetter schlechter Laune sein?«
»Nun, ich wüsste da zumindest eine Person«, meinte Fontane und deutete durch eine Kopfbewegung in Richtung der Rettungsboote auf der Backbordseite des Schiffes. Dort stand ein weiterer Passagier, ein Mann mittleren Alters von wenig beeindruckender Statur. In einem höchst banalen Gesicht betonte ein dürftiger Bart oberhalb des schmallippigen Mundes wie eine doppelte Unterstreichung die beständig verkniffene Miene. Er hätte gut ein pedantischer subalterner Fiskalbeamter sein können, wozu auch die runde Brille auf seiner Nase gut gepasst hätte. Missmutig hielt er mit einer Hand den hohen Zylinderhut fest und klammerte sich mit der anderen an die Vertäuung des Rettungsbootes.
»Sieh an, Herr Krüger beehrt uns mit seiner Gegenwart«, kommentierte Amalie schnippischer, als sie eigentlich wollte. Tatsächlich war Krügers Gegenwart während der gesamten Reise eine ausgesprochen unerfreuliche Angelegenheit gewesen. Kleinkariert, chronisch unzufrieden mit allem und jedem, sauertöpfisch und dabei grenzenlos langweilig hatte er es verstanden, sämtliche anderen Passagiere vom ersten Moment an gegen sich einzunehmen und selbst den doch einiges gewohnten Stewards mit seinen unausgesetzten Mäkeleien den letzten Nerv zu rauben. Kapitän Kaacksteen hatte Amalie bei der Bridgepartie am vergangenen Abend anvertraut, Herr Krüger sei mit Abstand das Unangenehmste, was er je über den Ozean habe transportieren müssen. Diese Aussage wog schwer, da der Kapitän nach eigenem Bekunden bereits ein Schiff mit einem halben Regiment seekranker, ausnahmslos unter unerfreulichen Krankheiten leidender Soldaten unter Deck in einem tagelangen Sturm befehligt hatte.
Glücklicherweise war Herr Krüger auch absolut ungesellig und verzichtete darauf, sich längere Zeit in der Nähe anderer aufzuhalten. Als er nun Amalie und Fontane unweit von sich stehen sah, zog er knapp den Hut, wandte sich ab und entfernte sich.
»Ein unerfreulicher Mensch«, befand Amalie.
Fontane nickte zustimmend. »Ich wünsche Ihnen aufrichtig, dass Sie ihm nach Abschluss dieser Reise nie wieder begegnen müssen.«
»Die Wahrscheinlichkeit dafür ist, Gott sei Dank, gering. Ich müsste schon großes Pech haben, noch einmal ausgerechnet mit Herrn Krüger konfrontiert zu werden. Schließlich hat die Provinz Karolina achthunderttausend Einwohner und die
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