Totgeschwiegen
1. KAPITEL
G race Montgomery hielt am Rand des Feldwegs an und sah hinüber zum großen Farmhaus. Dort hatte sie ihre Kindheit verbracht. Sogar in dieser bedeckten Nacht konnte sie im blassen Licht des Halbmondes erkennen, dass ihr älterer Bruder den Hof gut in Schuss hielt.
Aber das war bloß der äußere Schein. Die Wahrheit lag im Verborgenen. So war es auch im Fall dieser hübschen kleinen Südstaatenidylle. Deshalb hatte sie sich eigentlich geschworen, nie mehr hierher zurückzukommen.
Das Licht im ersten Stock erlosch. Clay ging zu Bett, wahrscheinlich zur gleichen Zeit wie jeden Abend. Grace verstand nicht, wie er es ganz allein hier draußen aushielt. Wie konnte er hier essen, schlafen und arbeiten – nur vierzig Schritte entfernt von der Stelle, an der sie ihren Stiefvater verscharrt hatten?
Sie stieg aus ihrem kleinen BMW. Das Warnsignal ertönte, weil sie den Schlüssel im Zündschloss hatte stecken lassen. Eigentlich hatte sie gar nicht vorgehabt, das Grundstück zu betreten. Aber jetzt war sie hier, und sie fühlte sich auch nach all den Jahren noch immer zu diesem Ort hingezogen.
Sie ging die Auffahrt entlang. Der kühle Stoff ihres Baumwollrocks strich über ihre Beine. Es war windstill. Bis auf das Zirpen der Grillen, das Quaken der Frösche und das Knirschen ihrer Sandalen auf dem Kiesweg war nichts zu hören. Sie hatte ganz vergessen, wie ruhig die Nächte in dieser Gegend waren und wie hell die Sterne hier draußen leuchteten, fernab der Stadt.
Sie erinnerte sich, wie sie als kleines Mädchen mit ihrer jüngeren Schwester Molly und ihrer älteren Stiefschwester Madeline auf der Wiese vor dem Haus geschlafen hatte. Das waren ganz besondere Abende. Sie hatten geplaudert, gelacht und gemeinsam in den tiefschwarzen Himmel geschaut, wo die Sterne ihnen zugeblinzelt und versprochen hatten, ihre Wünsche zu erfüllen. Damals waren sie noch so unschuldig: Wenn Madeline da war, kannte Grace keine Angst. Aber sie konnte natürlich nicht die ganze Zeit bei ihr sein. Sie hatte ja keine Ahnung, was damals in Grace vorgegangen war. Und an dem Abend, als es passierte, war sie gar nicht zu Hause.
Obwohl es sehr warm war, lief Grace ein Schauer über den Rücken, als sie die alte Scheune erreichte. Sie lag auf der rechten Seite zwischen den Trauerweiden und Pappeln. Sie hasste dieses alte Gebäude und die Erinnerungen, die es in ihr wachrief. Dort drinnen hatte sie den Stall des Pferdes ausgemistet, das nur ihr Stiefvater reiten durfte. Dort drinnen hatte sie nach Eiern gesucht und sich mit dem verrückten Hahn herumgeschlagen, der immer wieder hochflatterte, um ihr die Augen auszukratzen. Dort drinnen, im vorderen Teil der Scheune, hatte ihr Stiefvater, der Reverend, sich ein kleines Büro eingerichtet, in dem er seine Sonntagspredigten schrieb.
Der Geruch nach feuchter Erde und Magnolien brachte die Erinnerung zurück. Grace brach kalter Schweiß aus. Sie ballte die Fäuste so heftig, dass ihre Fingernägel sich tief in die Haut gruben. Du bist kein kleines Mädchen mehr, sagte sie sich verzweifelt. Es ist vorbei!
Sie versuchte, an etwas anderes zu denken. Sie musste die Erinnerung an dieses schreckliche kleine Kabuff unbedingt loswerden. Doch sie konnte nicht vergessen.
Das enge Zimmer war bis heute unberührt. Alles war so geblieben, wie er es hinterlassen hatte. Alles schien auf seine Rückkehr zu warten. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, nichts zu verändern. Von Reverend Lee Barker sprachen sie weiterhin in der Gegenwart. Die Leute in der Stadt waren schon misstrauisch genug.
Die Einwohner von Stillwater, einer kleinen Gemeinde im Staat Mississippi, hatten ein gutes Gedächtnis. Würden sie es achtzehn Jahre nach dem Verschwinden des Reverends akzeptieren, wenn Clay das Büro ausräumte?
“Runter von meinem Grundstück, oder ich schieße!”, ertönte plötzlich eine tiefe Stimme.
Grace wirbelte herum. Ihr gegenüber stand ein über ein Meter neunzig großer, kräftiger Mann, der aussah wie aus Stein gemeißelt. Es war ihr Bruder. Und er zielte mit dem Gewehr auf sie.
Einen kurzen Moment lang wünschte Grace, er würde schießen.
Aber dann musste sie lächeln. Clay war auch früher schon immer wachsam. Er war der große Bruder. Er passte auf alle auf.
“Hey! Erkennst du deine eigene Schwester nicht mehr?”, sagte sie und trat aus dem Schatten.
“Grace?” Der Gewehrlauf senkte sich, und ihr Bruder machte eine unbeholfene Bewegung. Er wollte sie umarmen. Aber obwohl Grace ebenso
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