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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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Sommer 1862
North Carolina
    Er rannte. Er rannte um sein Leben. Seine nackten Fußsohlen waren von spitzen Steinen zerfetzt, das blutende rohe Fleisch brannte wie Feuer. Seine Lunge wurde bei jedem Atemzug von Messerstichen durchbohrt. Sein Herz hämmerte in rasendem Tempo, als wollte es beim nächsten Schlag bersten. Reißende Schmerzen fuhren bei jeder Bewegung durch seine Beine. Bob war am Ende seiner Kräfte. Doch er konnte nicht stehen bleiben. Er wusste, was ihn erwartete, wenn sie ihn fingen. Sie würden ihn an einen Pfahl ketten, ihm den Rücken peitschen, bis die Knochen blank lagen, und ihn dann langsam sterben lassen. Als Warnung für die anderen Sklaven der Plantage.
    Jeder Schritt war eine Höllenqual, aber er rannte weiter. Der Tod selbst jagte ihn vorwärts.
     
    Der Sergeant lehnte mit den Armen auf dem Schlagbaum und blickte gelangweilt auf die Landschaft jenseits der Schranke, die sich in nichts von dem Panorama auf seiner Seite unterschied. In der Hitze der grellen Mittagssonne schien sich die Luft in der Ferne zu verflüssigen; die Konturen der grasbewachsenen Ebene und der verstreut stehenden einsamen Magnolienbäume verschwammen mit dem Blau des Himmels. Die staubig gelbe Straße löste sich in unruhigem Flirren auf, noch ehe sie an der nächsten Biegung zwischen trockenem Buschwerk verschwand. Irgendwo gab eine einzelne Grille unbeirrt ihre schnarrenden Laute von sich.
    Nur acht Tage musste der Sergeant noch überstehen, dann hatte er die sechs Wochen Grenzdienst hinter sich gebracht. Er konnte es kaum erwarten, diese ereignislose Eintönigkeit endlich hinter sich zu lassen. Nichts konnte ihm die Stumpfsinnigkeit der sich zäh dahinschleppenden Stunden erträglich machen.
    Aus den weit geöffneten Fenstern des weiß verputzten Wachhauses drangen die Stimmen der übrigen Soldaten seiner Korporalschaft. Sie sagten ihre Stiche beim Skat an und ließen dazu die Spielkarten laut auf den Tisch knallen. Da Alkohol untersagt war und eine Ortschaft, geschweige denn Frauen, im Umkreis von sechs Meilen nicht aufzufinden waren, blieb nur das Skatspiel, um die dienstfreie Zeit totzuschlagen. Ein Soldat der Korporalschaft, ein dilettierender Maler, hatte sich anfangs noch mit Zeichenpapier auf den Weg gemacht, um die Motive der Umgebung zu skizzieren. Er hatte dieses Unterfangen rasch aufgegeben, da er nichts finden konnte, was eine Darstellung wert gewesen wäre.
    Nicht der kleinste Windhauch brachte ein wenig Kühlung oder versetzte wenigstens die stehende Luft in Bewegung. Träge hing das Flaggentuch am Fahnenmast. Der Sergeant nahm den Helm vom Kopf und wischte sich mit dem Ärmelaufschlag den Schweiß von der Stirn. Statt den Helm danach wieder aufzusetzen, hängte er ihn mit dem Kinnriemen an die ausgestreckte Flügelspitze des gusseisernen Adlers, der einen Steinpfeiler neben dem Schlagbaum krönte. Der Teufel sollte die Vorschriften holen. Wenigstens heute.
     
    Bobs trockener Rachen krampfte sich zusammen. Er bekam kaum noch Luft und konnte nicht einmal mehr den wenigen bitteren Speichel hinunterschlucken, der sich in seiner Mundhöhle sammelte.
    Wie weit noch? Lag das Ziel hinter der nächsten Wegbiegung? Oder so weit entfernt, dass er es nie erreichen konnte? Lief er vielleicht schon seit Morgengrauen die falsche Straße entlang? Der Gedanke, von Anfang an ins Nichts gerannt zu sein, schnürte ihm die Kehle zu. Er versuchte, ihn aus seinem dröhnenden Schädel zu drängen. Aber es gelang ihm nicht. Die sandige Straße, deren Steine bei jedem Schritt in seine zerschundenen Füße stachen, schien ihn zu verspotten. Aus seinen von Staub und Hitze angeschwollenen Augen rannen Tränen.
    Und dann hörte er die Hunde hinter sich. Ihr wütendes Bellen war noch weit weg, doch es kam näher. Die weißen Herren hatten seine Spur gefunden. Er konnte ihnen nicht mehr entkommen. Bob wollte sich zu Boden fallen lassen und einfach nur auf den Tod warten. Aber nach Stunden des Laufens gehorchten ihm seine Beine nicht mehr sofort. Statt stehen zu bleiben, wankte er noch einige Schritte vorwärts. Gerade weit genug, um den Scheitel der kleinen Anhöhe zu erreichen und von dort aus ein weißes Haus hinter einem Schleier flimmernder Luft auftauchen zu sehen. Er konnte es nicht glauben. Wenn es nun nichts war als ein böser Streich Satans, der seine Augen betrog? Nein, was er sah, war wirklich. Ein Haus, ein Fahnenmast, ein Schlagbaum über der Straße.
    Dort lag die Grenze, von der sich alle Sklaven heimlich

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