Die falsche Frau
Nase, das von der Kälte ganz klamm war.
Sarah ging auf Gleis acht. Der EuroNight nach Paris stand noch.
40
The look of love …
Sie hatten eine Woche, in der sie Tag und Nacht beisammen gewesen waren. Nach dem letzten Mal, aneinandergeschmiegt wie zwei Kinder, lag François mit offenen Augen da, sie war bald eingeschlafen. Sicher, er hätte sie um dies oder jenes bitten können, um eine Verabredung, ein Wiedersehen, aber dann ließ er es bleiben. So was war ihm immer dann passiert, wenn ihn eine ins Herz geschlossen hatte.
Hätte er sie wecken sollen, ihr sagen, dass er so, wach und voller Unruhe, nicht länger liegen bleiben konnte, weder hier noch sonst wo? Seiner Haut juckte, und er nahm es als Zeichen, lieber wieder von der Bildfläche zu verschwinden, bevor ein weiteres Unglück geschähe.
Als Veras Atemzüge gleichmäßig genug waren und er sicher sein konnte, dass sie fest schlief, war er aufgestanden, hatte leise seine Sachen gepackt und nach Papier und Bleistift gesucht.
Bin in Paris, hatte er geschrieben, mehr nicht, aber das war viel und sonst gar nicht seine Art. Meistens sagte er gar nichts, weder dass er kommen noch dass er gehen würde.
François lag in Parka und Schal eingewickelt unter einer Wolldecke. Nur sein kahl geschorener Kopf lugte hervor, als der Schaffner Licht machte und nach seinem Pass verlangte.
Wortlos händigte er ihm seine Dokumente aus. An Schlaf war nicht zu denken. Reisende liefen über den Gang, auf der Suche nach ihren Abteilen. Er hörte fortwährend Schritte, Türen klappten auf und zu.
Noch zehn Minuten bis zur Abfahrt.
Keine Schwüre, keine Erklärungen, keine Fragen mehr.
Nach den ersten Sekunden Freiheit, die er als Schwerelosigkeit empfand, schlug die Schiebetür seines Abteils gegen den Rahmen. François schreckte hoch. Er schob die Gardine zurück. Eine Hand, die sich vor und zurück tastete, als suchte sie Halt, versperrte ihm die Sicht. Das Gesicht an die dunkle Scheibe gedrückt, dachte er sofort an Vera. Wie sie ihm die Arme eng um seinen Hals geschlungen und zwei Küsse auf die Wange gedrückt hatte. Wie er vor Traurigkeit reglos geblieben war und nur ein langsames Lächeln hervorbringen konnte vor dem Einschlafen. Ihr kaffeebraunes Gesicht. Ihre sanften Hände. Ihr Lied. Ihr verrücktes Lied.
Don’t ever go.
War sie ihm etwa gefolgt? Die Hand klebte glatt und faltenlos vor seinen Augen wie auf einem Objektträger, als wollte sie wie durch die Linse eines Mikroskops betrachtet werden.
Unmöglich! François wich zurück. Selbst wenn sie es war, er würde ihr nichts geben können, kein Versprechen, keine Abmachungen, so einfach war das nicht.
Es klopfte an die Scheibe.
Das Klopfen war leise und fast nicht zu hören. François fuhr ein zweites Mal hoch, öffnete mit einem Ruck die Tür und betrachtete den Rest, der zu dieser Hand gehörte. Ein Frauenarm, schmale Schultern, ein erloschener Blick. Sie war nicht da, als er vorgestern Nacht bei ihr geläutet hatte, war nicht ans Telefon gegangen, schien wie vom Erdboden verschluckt, und plötzlich war sie hier, ganz dicht, eingeklemmt zwischen zwei Scheiben auf dem Gang eines Schnellzuges, der zurück nach Paris wollte.
»Ich bin’s«, sagte sie und wirkte völlig durcheinander.
»Das seh ich«, sagte François. »Woher wusstest du …?«
»Vera!«, sagte sie nur.
Sarah trug eine randlose Brille, die er noch nie an ihr gesehen hatte, war blass und hatte sehr kurze Haare. Ansonsten dasselbe Kostüm wie immer, ungewöhnlich hell für diese Jahreszeit und viel zu dünn. Diesmal fehlte ihr der Stolz, die weibliche Exklusivität, mit der sie sich sonst zeigte, und ihr trauriges, entmutigtes Gesicht sagte ihm, dass sie nun greifbar wäre und etwas mit ihr geschehen sein musste, von dem er nicht wissen konnte, was.
»Sarah«, flüsterte er.
Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, weil er sie immer noch schön fand, weil der Moment so absurd war, dass er nichts Besseres zu sagen wusste als ihren Namen.
»Was machen Sie hier?«
»Du«, sagte sie zaghaft.
Und nach einer Schweigesekunde. »Kannst du aussteigen?«
»Wir …«, stotterte er, aber ihre weit geöffneten Augen glänzten so traurig, dass er sie nur wortlos ansehen konnte und den Kopf schüttelte.
»Ich hab was von dir«, sagte sie und kramte mit der Hand in ihrer Manteltasche.
»Rimbaud!«
Wie dünn ihre Stimme klang, als sie die Geschichte eines verwundeten Soldaten vorlas, dem man kaum etwas ansah, keine Narbe, keinen Wunsch, keinen
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