Die falsche Frau
ihr
Medizinstudium nie beendet hatte. Auf eigene Faust war sie von Dorf zu Dorf
gezogen, hatte geholfen, wo sie helfen konnte, und als Bezahlung genommen, was
die Menschen zu geben imstande waren. Ihr Mann war die meiste Zeit in Peshawar
geblieben und hatte von dort aus ein System zur Vermittlung von Mikrokrediten
für Kleinstunternehmer und Bauern aufgebaut.
Rasch war der ehemaligen RAF-Terroristin klar geworden, dass ihre
Patienten und Patientinnen niemals aus ihrem Elend herauskommen würden, solange
die allermeisten nicht einmal lesen konnten. In den Gegenden, die sie besuchte,
hatten schon Knaben Glück, wenn sie eine Schule besuchen durften. Bei Mädchen
wurde Bildung als Verschwendung angesehen. So hatte sie begonnen, sich um den
Aufbau von Mädchenschulen zu kümmern, in den Dörfern der Ebene und im Vorgebirge
des Hindukusch. Wieder ganz auf sich gestellt, weder im Auftrag irgendwelcher
Regierungen noch von NGOs. Ihr Mann hatte hin und wieder ein wenig Geld
aufgetrieben, und jedes Mal, wenn genug zusammengekommen war, hatte sie â immer
mit tatkräftiger Mithilfe der Bevölkerung â ein neues Schulgebäude gebaut, oft
zunächst auch selbst unterrichtet und nebenbei Frauen aus den jeweiligen
Dörfern zu Hilfslehrerinnen ausgebildet. In der Gegend rund um Peshawar waren
sie und ihr Mann bestens bekannt und im Gegensatz zu den meisten anderen
Ausländern hoch angesehen.
»Und die Taliban haben das geduldet?«, wunderte sich Balke.
»Sprengen die nicht in Afghanistan reihenweise Mädchenschulen in die Luft?«
»Weil es ihr gelungen ist, das Vertrauen der Menschen zu erringen.
Vor allem das der Dorfältesten und der Mullahs, ohne die da unten nichts geht.«
Ihre allererste Schule hatte sie zweitausendeins in einem Ãrtchen am
Ufer des Swat gebaut, buchstäblich mit eigenen Händen. Bald hatte sie jedoch
die Unterstützung von Frauen gefunden, von Müttern, die sie von ihrem Anliegen
hatte überzeugen können. Bald waren Vertreter von Nachbarorten an die
angebliche Mary Wollstonecraft herangetreten mit der Bitte, auch ihnen zu
helfen. Ihre Strategie war immer wieder gewesen, sich zunächst den Rückhalt der
örtlichen Clanführer und Oberhäupter der wichtigen Familien zu verschaffen. Mit
diesen zusammen wurde der Bauplatz festgelegt, die GröÃe der Räume, alles.
»Das ist das, was da unten häufig schiefläuft«, erläuterte ich
meiner aufmerksamen Zuhörerschaft. »Da kommen irgendwelche Fremden daher,
stellen irgendwas hin, ohne die Beglückten um ihre Meinung zu fragen, und
verschwinden anschlieÃend so schnell wieder von der Bildfläche, wie sie
gekommen sind. Frau Landers hat für Nachhaltigkeit gesorgt, indem sie die
Menschen mitgenommen hat.«
War eine Schule fertig und das Lehrpersonal ausgebildet, zog sie
weiter. Zu Fuà oder â so hatte ich gelesen â in den letzten Jahren begleitet
von einem Eselchen. Auf diese Weise hatte sie über die Jahre nicht weniger als
vierzehn Schulen gegründet, die bis auf zwei alle noch in Betrieb waren. Die
erste, die sie aufgebaut hatte, hatte die groÃe Flut im vergangenen Sommer
fortgeschwemmt. Eine andere hatte später eine Drohne der USA in Schutt und
Asche gelegt, weil irgendjemand in Langley den Verdacht hegte, in dem Gebäude
finde ein Treffen von Talibanführern statt. Bei diesem Angriff waren
achtundzwanzig Mädchen ums Leben gekommen samt ihrer Lehrerin.
»Und warum hat sie jetzt auf einmal damit aufgehört?«, fragte
Krauss. »Ich meine, anscheinend hatâs ihr doch Spaà gemacht. Sie hat Erfolg
gehabt. So was schmeiÃt man doch nicht einfach hin.«
»Dafür gibt es gleich mehrere denkbare Erklärungen. Vielleicht sind
auch alle zusammen das Motiv für ihre Rückkehr. Erstens dieser Angriff der
Amerikaner auf eine ihrer Schulen. Zweitens haben in den vergangenen Jahren
auch die Amis dort unten angefangen zu bauen. Schulen, aber auch andere
öffentliche Gebäude. Ihr Motiv ist allerdings weniger, den Leuten zu helfen,
als den Taliban das Wasser abzugraben. Und drittens, und das ist in meinen
Augen der entscheidende Punkt: Vor anderthalb Jahren ist in Peshawar eine
öffentliche Bibliothek eingestürzt, bei einem Erdbeben. Das Gebäude hatte die
HBC hingestellt, es war nicht mal ein Jahr alt. Natürlich haben sie nicht mit
altmodischen Lehmziegeln gebaut und mit Holz und Stroh, sondern mit
Weitere Kostenlose Bücher