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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Heimweh?«
    »Nein.«
    »Würde ich Ihnen aber nicht verdenken, Mr Blackstone. Heimweh, davon verstehen wir hier eine Menge.«
    »Nein«, sagte er noch einmal. Er nahm sein Messer, schärfte es und machte sich wieder daran, das Gras zu zerkleinern, und er pfiff dabei, damit die Männer seine Stimmung auch richtig deuteten, seine optimistische Stimmung. Denn während sein Blick über die Ebene schweifte und zu den fernen Bergen hochwanderte, keimte plötzlich so etwas wie Hoffnung in ihm auf. Er war hier. Er war auf der Südinsel Neuseelands, an einem Ort, der Aotearoa hieß – Land der langen weißen Wolke. Obwohl er in England etwas Schreckliches getan hatte, hatte er überlebt. Die Zukunft lag hier, lag in den Steinen, im rastlosen Wasser des Bachs, im fernen Wald.
    Und mit Harriets Hilfe, sagte er sich, würde es ihm gelingen, ein ehrliches und gedeihliches Leben zu führen, ein Leben, in dem auch Lilian sich schließlich wohl und umsorgt fühlen würde. Irgendwann würde sie ihm die Hand auf die Wange legen und sagen, sie sei stolz auf alles, was er erreicht habe.
IV
    Die Unterkunft, die Mrs Dinsdale Harriet und Lilian in Christchurch vermietet hatte, roch nach dem Firnis, den die Profilholzwände ausdünsteten, und nach Leinen, das mit hartem Wasser besprengt und mit glühendem Bügeleisen versengt worden war.
    Mrs Dinsdale war von Dunedin nach Christchurch und von Edinburgh nach Dunedin gekommen. In Edinburgh, sagte sie, habe ihre Wäsche nicht eine einzige Falte aufgewiesen.
    Sie war in Lilians Alter und ebenfalls Witwe, besaß aber jene hartnäckige Schönheit, die nie ganz vergeht und die vermuten ließ, dass Mrs Dinsdale – trotz ihres Alters – wahrscheinlich bald Mrs Jemand-anders sein würde.
    Lilian sagte zu Harriet: »Ich glaube ja, dass sie eine Kokette ist. Heißt das nicht so?«
    Und auch wenn ihre eigenartig kämpferische Bügelweise anderes vermuten ließ, hatte Mrs Dinsdale ein so heiteres, freundliches Wesen, dass es nicht lange dauerte, bis Lilian auf ihrer, wie Mrs Dindale sagte, »besten Veranda« saß, Limonade trank und ihr allerlei Sorgen und Bedrängnisse aus ihrem früheren Leben anvertraute.
    Lilian Blackstones Gesicht unter dem stahlgrauen Haar, das sie in der Mitte gescheitelt und in einem strähnigen Zopf um den Kopf gelegt hatte, wurde kalkweiß, als sie Mrs Dinsdale die »Kämpfe« mit ihrem verstorbenen Ehemann Roderick beschrieb. Lilian überhörte Mrs Dinsdales Bemerkung, dass die »Ehe ein nie enden wollender schrecklicher Kampf zweier Willen« sei, und verriet ihrer neuen Freundin flüsternd, dass Roderick ein gewisses Laster besessen habe, und dieses Laster habe seinen peinlichen Tod verursacht.
    Bei dem Wort »Laster« leuchteten Mrs Dinsdales blaue Augen erwartungsvoll auf, und sie beugte sich in ihrem Korbstuhl leicht vor.
    »Oh, Laster«, sagte sie.
    »Nicht jeder würde es ›Laster‹ nennen«, sagte Lilian. »Aber ich tue es.«
    »Und was war nun das … Laster?«
    »Neugier.«
    »Neugier?«
    »Ja. Roderick musste seine Nase überall reinstecken. Hätte er das sein lassen, wäre er nicht gestorben, und man hätte mich nicht um den halben Globus geschleppt.«
    Mrs Dinsdale entfernte das perlenbesetzte Musselintuch vomLimonadenkrug und füllte die beiden Gläser erneut. Lilian entging nicht, wie geradezu unenglisch einladend die Sonne die blasse Flüssigkeit zum Funkeln brachte, und Mrs Dinsdales kleine Geste machte Lilian deutlich, dass Christchurch durchaus seinen Charme besaß. Sie sollte sich nicht dagegen sperren.
    »Ich will Neuseeland nicht kritisieren«, beteuerte sie hastig. »Ich will nur sagen, dass mein dörfliches Leben in Parton Magna in Norfolk so war, wie ich es mir wünschte, und dass ich freiwillig nicht fortgegangen wäre. Mein Sohn hatte die Idee, die alte Welt zu verlassen. Und als diese Idee sich erst einmal in seinem Kopf festgesetzt hatte …«
    »Oh ja. Wenn Männer erst einmal eine Idee haben, dann sind sie durch nichts davon abzubringen.«
    »Wie richtig.«
    »Und als Witwe hatten Sie vielleicht auch nicht die nötigen Mittel?«
    »Absolut nicht. Roderick war nicht darauf vorbereitet zu sterben.«
    Mrs Dinsdale kreuzte die Füße, die, wie Lilian bemerkte, in ausgesucht feinen braunen Stiefelchen steckten.
    »Es war also seine Neugier?«, fragte Mrs Dinsdale, und ihre aufgerissenen Augen verrieten begieriges Interesse. »Aber wie kann Neugier einen Menschen töten?«
    Lilian nahm einen Schluck Limonade. Sie hatte Limonade noch nie besonders

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