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Die Farben der Wirklichkeit

Die Farben der Wirklichkeit

Titel: Die Farben der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Körner
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Augen immer schwerer wurden, beschloß sie, am nächsten Morgen einen neuen Anfang zu machen und selbst ein Feuer zu entzünden, um der feuchten, kühlen Dämmerung ein wenig Wärme entgegenzusetzen.
     

Bruno Streibel
    Die Frau mit den steinernen Brüsten
     

     
    N iemand weiß, woher sie kam. Auch ich kenne ihre Geschichte nicht. Sie war eines Tages einfach da — die Frau mit den steinernen Brüsten.
    Zu dieser Frau kam ein Junge. Weil er noch sehr klein war, wollte er sich oft an die Frau anlehnen. Manchmal, wenn er durstig und hungrig war, hätte er gerne an ihren Brüsten getrunken. Doch er spürte dann immer nur Härte und Kälte und wurde nie satt, denn steinerne Brüste geben keine Milch.
    So lebte der Junge häufig nur vom Betteln und von der Milch, die andere ihm hin und wieder gaben. Aber in seinem Herzen wollte die Sehnsucht nicht weichen, sich an dieser einen Frau zu wärmen, sich liebevoll anzuschmiegen, von ihren Brüsten zu trinken und in ihrem Schoß zufrieden einzuschlafen. Oft träumte er davon und war im Traum sehr glücklich. Aber versuchte er es wirklich einmal, wiederholte sich ständig nur seine schmerzliche Erfahrung mit den Brüsten aus Stein.
    Diese Frau hatte auch einen Mann. Ihm erging es nicht viel besser als dem Jungen: Wenn er abends müde von der Arbeit nach Hause kam und die Nähe und Wärme seiner Frau suchte, fand er nur Härte und Kälte. So wurde er mürrisch, unzufrieden, launisch und außerdem neidisch auf den Jungen. Aus irgendeinem Grunde glaubte er, daß der Junge ihm vielleicht die Gunst seiner Frau nähme. So begann er, den Jungen zu hassen. Er hetzte und scheuchte ihn, beschimpfte ihn oft und ließ ihm kaum eine Minute Ruhe oder Freiheit. So oft wie möglich versuchte er, dem Jungen Angst zu machen, ihn einzuschüchtern.
    Als nun der Junge einmal über sein Unglück weinte, mußte er erleben, daß man über seine Tränen auch noch lachte. Ein Junge weint nicht, wurde ihm von dem Mann gesagt. Und gleich hetzte dieser ihn weiter: „Hol dies, tu das, mach jenes, und alles schnell, schnell.“ Wie immer gab sich der Junge größte Mühe, es dem Mann recht zu machen. Aber er bekam kein Lob, wurde nicht in den Arm genommen oder gar gestreichelt.
    Einmal im Jahr feierte die Familie ein Fest, das Fest der Besinnung, wie es genannt wurde. Tatsächlich diente es aber dazu, die Kinder einzuschüchtern. Ihnen wurde an diesem Tag feierlich Angst gemacht - soviel Angst, daß sie sich wieder ein Jahr lang die ganze Hetze gefallen ließen, willig all dies taten, wozu sie gebraucht wurden und sich mit den steinernen Brüsten der Mütter abfanden.
    Ein Mitglied der Familie kleidete sich in zottige Schafsfelle und ermahnte den Jungen, immer brav zu sein. Zur Belustigung aller Anwesenden mußte der Junge Gedichte aufsagen, Lieder singen, Gebete herunterrasseln und versprechen, immer artig zu sein. Und bei dieser Zeremonie leuchteten die Augen der Erwachsenen.
    Mit der Zeit lernte der Junge, daß Angst, Verbote, Hetze und die steinernen Brüste der Mutter offensichtlich zu seinem Schicksal gehörten. Er fand sich schließlich damit ab. Wirkliche Freunde hatte er keine, weil er ja ständig gehetzt wurde und nie richtig Zeit für sie hatte. Und da er immer voller Angst war, es nie jemandem recht machen zu können, hatte er es sowieso nicht leicht, richtige Freunde zu finden. Anderen Menschen begegnete er oft seltsam, kam diesen schroff, abweisend und manchmal ein bißchen komisch vor. Und obwohl niemand so richtig etwas gegen ihn hatte, mochte ihn trotzdem keiner so recht. Also verschloß er sich vollends.
    Eines Tages kam eine gütige Zauberin durch das Land. Sie lernte den Jungen kennen und bemerkte sofort, wie unglücklich er in seiner Verschlossenheit war und wie schlecht es ihm erging. Sie beschloß zu helfen und sagte, daß sie ihn gern habe und ihm behilflich sein wolle. Aber der Junge fühlte nichts dabei; er wußte nicht, was das ist: gemocht zu werden.
    Trotzdem blieb die Nähe der alten Zauberin nicht ganz ohne Wirkung auf ihn. Er fand endlich den Mut und die Kraft, sich von seiner Familie zu lösen. Er zog aus und ließ alles hinter sich.
    Dem Mann und seiner Frau fehlte plötzlich jemand, den sie hetzen und quälen konnten, jemand der sich alles gefallen ließ und an dem sic ihre Faunen auslassen konnten. Sie versuchten, den Jungen zurückzuholen, erzählten, was sie alles für ihn getan und daß sie alles nur gut gemeint hätten. Sie wollten nur sein Bestes, sagten sie, doch

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