Die fetten Jahre
gewesen. Meine Laune besserte sich augenblicklich und das eigenartige Glücksgefühl, das mich in der letzten Zeit so oft überkam, stellte sich wieder ein. Wie lebendig diese Stadt doch war, all die hippen jungen Leute und dazu die vielen Expatriates und Touristen aus aller Herren Länder! Was für eine Metropole! Und alle kauften, was das Zeug hielt, kurbelten die Inlandsnachfrage an, zum Wohle der Allgemeinheit. Ich erinnerte mich an den Anruf einer Freundin vor ein paar Monaten. Sie forschte über Dorfkultur im ländlichen China an der Akademie der Sozialwissenschaften. Ihre Nichte aus der Provinz war über die Winterferien bei ihr in Peking und wollte unbedingt zu Y-3, um sich neu einzukleiden. Was das denn sei, Y-3, fragte sie mich. Einem weltfremden Bücherwurm wie ihr verlangt eine simple Internetsuche wohl schon zu viel ab!, dachte ich genervt. Y-3 war ein Modelabel, das Adidas zusammen mit dem japanischen Designer Yohji Yamamoto kreiert hatte. Y stand für Yamamoto, 3 für das Markenzeichen von Adidas, die drei schrägen Streifen. Y-3 war in China von Anfang an ein Riesenerfolg gewesen, der chinesische Markt inzwischen der umsatzstärkste weltweit. Die größte Y-3-Filiale in Peking hatte ich direkt vor Augen, sie lag schräg gegenüber des Sanlituner Want-Want-Starbucks. Als Adidas hier kurz vor der Olympiade 2008 seinen Flagshipstore eröffnet hatte, war Y-3 gerade einmal ein Drittel der Verkaufsfläche in der obersten Etage des vierstöckigen Ladens eingeräumt worden; heute belegte das Label das gesamte Erdgeschoss. Zudem hatte Adidas durch die Übernahme des ehemaligen Nike-Gebäudes sein Areal insgesamt ausgedehnt. Dem war die Fusion von Adidas mit dem chinesischen Sportwarenhersteller Li Ning vorausgegangen, die wiederum der neuen Politik der Regierung zu verdanken war: Jedes Unternehmen, das am chinesischen Markt teilhaben wollte, musste nun über mindestens fünfundzwanzig Prozent chinesisches Kapital verfügen; bei mehr als fünfzig Prozent gab es allerlei Vergünstigungen. Wer in Shanghai an die Börse wollte, hatte außerdem eine Reihe weiterer Auflagen zu erfüllen. Wenn eine ausländische Firma diesen Anforderungen nicht gerecht wurde, benötigte sie eine Sondergenehmigung des Wirtschaftsministeriums. Und wer die nicht bekam, dem blieb nichts anderes übrig, als sich vom chinesischen Markt mit seinen 1,35 Milliarden potenziellen Kunden zu verabschieden.
In Taiwan und Hongkong, wo ich den größten Teil meines Lebens verbracht hatte, war man immer der festen Überzeugung gewesen: ohne Export keine Entwicklung. Wer reich werden wollte, musste sich die erste Million mühsam vom Leibe absparen. Erst heute verstehen wir, wie wichtig Inlandsnachfrage und -konsum sind. Die Kauflust der Chinesen konnte zwar nicht die ganze Welt aus der Misere ziehen, aber sie hielt wenigstens China weiter auf Erfolgskurs. Und sie allein hatte ausgereicht, um die Weichen für die Zukunft zu stellen. Der Inlandskonsum war von fünfunddreißig Prozent innerhalb weniger Jahre auf gut fünfzig Prozent angestiegen. Auch wenn er sich mittlerweile auf diesem Niveau eingependelt hatte und kaum weiteres Wachstum verzeichnete, so war das dennoch eine in jeder Hinsicht überaus beeindruckende Leistung.
Das war keine blinde Prahlerei meinerseits, mir war bewusst, dass Chinas Probleme damit noch längst nicht alle gelöst waren. Aber wir hatten den selbst herbeigeführten Kollaps der kapitalistischen Welt, allen voran der USA, dem Hauptverursacher der Katastrophe, als einzige Nation unbeschadet überstanden. Nach dem Finanz-Tsunami im Jahr 2008 hatte es nur eine kurze Erholungsphase gegeben, bevor sich erneut Stagflation breitgemacht hatte. Die Krise hat die Welt bis heute fest im Griff und nur China hat es vermocht, sich ihr zu entziehen. Wo andere Nationen ihr Engagement zurückfuhren, bauten die Chinesen ihre Position aus und ließen die Wachstumszahlen im Reich der Mitte in ungeahnte Höhen schießen. Die Inlandsnachfrage ersetzte den schwindenden Export, souveräner Wohlstand trat an die Stelle des sich verflüchtigenden ausländischen Kapitals. Ersten Schätzungen zufolge würde das Wirtschaftswachstum zum dritten Mal in Folge die Fünfzehn-Prozent-Marke übersteigen. China hatte nicht nur die Spielregeln der Weltwirtschaft neu definiert – die gesamte westliche Ökonomik musste umgeschrieben werden. Doch was am meisten zählte: All das hatte China erreicht, ohne im gesellschaftlichen Chaos zu versinken. Im Gegenteil, die
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