Die fetten Jahre

überhaupt aufgefallen. Vereinzelt wurde die Sache im Ausland noch angesprochen, aber das haben wir weggefiltert. Aus der neuen Version wurde im Handumdrehen die einzig gültige, die historisch verbürgte Wahrheit. Ich selbst war völlig überrascht davon, wie leicht die Chinesen bereit waren, einen so radikalen Teil ihrer Geschichte einfach zu vergessen.
    Was ich euch damit sagen will: Es stimmt zwar, dass die Propagandaabteilung der Partei nicht untätig war; aber wir haben unser Boot lediglich in die vorhandene Strömung gesetzt. Wenn die Menschen nicht hätten vergessen wollen, dann hätten wir sie niemals dazu zwingen können. Die Chinesen haben sich bereitwillig selbst ihre Amnesie-Pille verabreicht.«
    Xiaoxi und Fang Caodi hakten aufgeregt nach: »Aber wie kann das sein? Es muss doch eine Erklärung dafür geben!«
    »Wie ich schon sagte: Ich weiß es nicht! Vielleicht wollen die Menschen etwas so Schreckliches einfach vergessen, vielleicht sehnen sie sich einfach nach Zufriedenheit und Seelenfrieden. Vielleicht hat die Kommunistische Partei Chinas aber auch einfach Glück. Vielleicht haben die Chinesen es verdient, von der KP beherrscht zu werden, vielleicht waren sechzig Jahre einfach noch nicht genug. Wenn ich nicht Atheist wäre, würde ich wohl sagen: Es ist ein Wunder! Oder Karma! Oder der Wille Gottes.«
    Xiaoxi und Fang Caodi saßen da und starrten niedergeschlagen ins Leere. He Dongsheng hingegen blickte wie ein Sieger in die Runde. Selbst Chen brauchte eine ganze Weile, bis er wieder zu sich kam und sah, dass es draußen bereits dämmerte. Er fing sich als Erster wieder und wandte sich an He Dongsheng: »Ich darf dich daran erinnern, dass es zwischen uns ein Übereinkommen gibt: gemeinsam leben oder zusammen sterben. Wir schweigen über alles, was heute Nacht passiert ist und führen unser Leben als Normalbürger weiter. Du folgst deiner politischen Laufbahn und scheffelst noch mehr Geld. Denk gründlich darüber nach. Meine Freunde, sofern ihr keine Einwände habt, schlage ich vor, wir lassen Herrn He jetzt nach Hause gehen.«
    Als weder Xiaoxi noch Fang Caodi oder Zhang Dou etwas erwiderte, sagte Chen ruhig zu He Dongsheng: »Du bist ein freier Mann.«
    He Dongsheng zögerte noch einen Moment, dann stand er auf und ging langsam zur Tür. Dort blieb er stehen, drehte sich um und blickte eindringlich ein letztes Mal in die Runde: »Glaubt ihr wirklich, mir ginge es um Macht und Geld? Was ich tue, tue ich einzig für mein Land und mein Volk!«
    Die anderen schauten ihn regungslos an.
    Leise fügte er hinzu: »Ob ihr es glaubt oder nicht.«
    Dann ging er hinaus.
    Kurz darauf hörte man seinen Geländewagen starten und davonfahren.
    Chen, Xiaoxi und Fang Caodi waren in Gedanken versunken.
    Zhang Duo sicherte die Filmaufnahme und gab jedem eine Kopie.
    Schließlich stand Fang Caodi auf: »Also, wir sollten wohl langsam aufbrechen.«
    »Ja, es wird Zeit«, sagte Chen.
    »Kann ich Sie mit in die Stadt nehmen?«
    »Nein, dank dir. Xiaoxi und ich können ein Taxi nehmen. Jetzt sieh zu, dass du loskommst!«
    Fang Caodi umarmte die anderen zum Abschied, dann stieg er in seinen Jeep und fuhr davon.
    Zhang Dou schaute besorgt: »Wird alles gut gehen, Herr Chen?«
    »Die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig, würde ich sagen.«
    »Verstehe.«
    »Pass gut auf Miaomiao auf«, sagte Xiaoxi.
    Die drei umarmten sich.
    Als sie das Haus verließen und zur Straße gingen, legte Chen den Arm um Xiaoxi: »Ich habe ein paar Freunde in Yunnan, die nicht high-lite-lite sind. Würdest du mit mir dorthin gehen? Deine Mutter nehmen wir natürlich mit, wenn du magst.«
    Xiaoxi musste nicht lange nachdenken: »Nichts lieber als das!«
    Von Osten her erstrahlte der Himmel bereits in hellem Glanz. Mit einer Hand die Augen bedeckend, liefen die beiden gemeinsam dem gleißenden Morgenlicht entgegen.
    ENDE

Lübbe Digital
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    Originalverlag: OUP, Hong Kong 2009
    © Chan Koonchung 2009
    © Eichborn in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, August 2011
    Umschlaggestaltung: Christina Hucke unter Verwendung eines Ausschnitts
    des Gemäldes »Garbage Dump« von Yue Minjun (2006/06)
    Lektorat: Katharina Dittes
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