Die fetten Jahre
soziale Harmonie war größer als jemals zuvor. Angesichts einer solchen Meisterleistung musste auch ich voller Bewunderung den Hut ziehen, es war schlicht überwältigend … Bei diesen Gedanken überkam mich wieder einmal eine starke Ergriffenheit. Das passierte mir in letzter Zeit ständig. Ich wurde schneller sentimental als früher. Oft standen mir vor lauter Rührung plötzlich Tränen in den Augen. Ich musste an Xiaoxi denken und die Melancholie, die sie umgeben hatte. Sie tat mir leid. Rings herum genossen die Menschen das Leben, nur sie schien immer bedrückter zu werden. Ich atmete einmal tief durch, um einen verstärkten Anflug von Rührseligkeit zu unterdrücken. Ich war eigentlich immer ziemlich abgeklärt gewesen, warum wurde ich neuerdings bei jeder Kleinigkeit gleich so emotional?
Unbemerkt war mir eine Träne über die Wange gelaufen und in meinen halbvollen Becher Longjing-Latte getropft. Eilig wischte ich mir mit einer Serviette die Augen und verließ das Lokal.
Ein zukünftiger Protagonist
Seit Pekings führender geisteswissenschaftlicher Buchladen, der All Sages Bookstore, endgültig seine Tore geschlossen hatte, kam ich nur noch selten ins Universitätsviertel Haidian im Nordwesten der Stadt. Ein paar Tage nach dem Frühjahrsempfang bei SDX machte ich mich aber auf den Weg dorthin. Die ganze Woche über fühlte ich mich bestens. Ich hatte wie immer jeden Tag die Zeitung gelesen, im Internet gesurft und die Fernsehnachrichten verfolgt. Kein Tag war vergangen, an dem ich mich nicht darüber gefreut hätte, hier in China zu leben, und hin und wieder hatte ich ein paar Tränen der Glückseligkeit vergossen. Zunächst hatte mich die Begegnung mit Xiaoxi nicht weiter beschäftigt, zu weit schien sie mir in ihrer Verfassung von meinem Leben und meiner eigenen Gemütslage entfernt. Doch dann passierte es mir mehrere Nächte nacheinander, dass ich morgens nass geschwitzt und erregt aufwachte, im Kopf noch die Reste eines frühmorgendlichen Traums von Xiaoxi. Wahrscheinlich schlief ich schon zu lange ohne eine Frau neben mir. Einmal träumte ich sogar von Fang Caodi. Es war einer von diesen unangenehmen Träumen, in denen man ständig im Kreis läuft, ohne wirklich voranzukommen. Ich bereute ein wenig, dass ich die beiden nicht nach ihren Handynummern gefragt hatte, denn keiner von ihnen meldete sich bei mir. Ich war ihnen wohl doch nicht so wichtig. Ich hatte keine Ahnung, wie ich Fang Caodi hätte aufspüren sollen, hatte aber auch kein wirkliches Interesse, ihn zu sehen. Zu Xiaoxi hatte ich jedoch einen Anhaltspunkt. Er war auch der Grund, der mich hierher, in die Gegend hinter dem Ost-Campus der Peking-Universität, führte.
Ende der achtziger Jahre hatten Xiaoxi und ihre Mutter sich selbstständig gemacht und in einer der illegalen Flachbauten vor den Wohnhäusern hinter der PU ihr eigenes kleines Restaurant eröffnet. Sie nannten es Die Fünf Aromen. Xiaoxis Mutter, Madame Song, bereitete eine passable Ente nach Guizhou-Art zu, die zum guten Ruf des Ladens beitrug. Der eigentliche Gästemagnet waren jedoch Xiaoxi und ihre Freunde, die man zu jeder beliebigen Tageszeit dort antraf. Einmal mit ihnen ins Gespräch gekommen, blieb man meist bis spät in die Nacht und die Fünf Aromen avancierten schnell zum Salon der Ausländer und Intellektuellen von Haidian. Später wurde das Restaurant für ein paar Jahre geschlossen, aber kurz nach Deng Xiaopings Südinspektion 1992 fand es ganz in der Nähe eine neue Heimat und wurde wiedereröffnet. Jedes Mal, wenn ich nach Peking kam, verbrachte ich zumindest einen Abend dort. Mein letzter Besuch lag nun schon einige Jahre zurück und ich war nicht sicher, ob das Restaurant überhaupt noch existierte. Meine Hoffnung erstarb, als ich hinter dem Ost-Campus einbog. Die alten Wohnhäuser mit ihren flachen Anbauten waren allesamt abgerissen worden, von den kleinen Läden und Restaurants war nichts mehr übrig. Die Fünf Aromen existierte nicht mehr und All Sages war ebenfalls Geschichte, ich hatte hier also nichts mehr verloren. Ungerührt beschloss ich, zu Fuß zum O 2 Sun Buchladen in Wudaokou zu spazieren, immer noch besser, als gleich wieder heimzufahren. Im Anschluss daran bot sich ein Kaffee im Sculpting Time Café an. Diese Gegend war früher das Epizentrum der Rockmusik im Westen Pekings gewesen, mit vielen kleinen Clubs. Ob es sie noch gab, wusste ich nicht – ich hatte die Szene in den letzten Jahren nicht mehr verfolgt. Ich lief die Chengfu Road
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