Die fetten Jahre
einzulegen. Dann fragte ich neugierig: »Was ist denn nun aus euch beiden geworden?« Sie schmunzelte. »Er war so eifrig dabei, mich zu belehren, dass er ganz an die Kante seines Stuhls gerückt war. Ein groß gewachsener, gut gebauter junger Kerl vom Nebentisch stieß beim Verlassen des Lokals einmal kräftig dagegen und – Rums! – schon landete er auf dem Boden.«
»Ein junger Kerl?«, fragte ich.
»Fast noch ein Kind!«
»Hat er etwas gesagt?«
»Nein, nichts. Ist einfach gegangen! Ich hab mich fast totgelacht.«
»Kanntest du ihn?«
»Nein. Aber ich würde ihn gerne kennenlernen!«
Ich war ein wenig eifersüchtig. »Tatsächlich? Für mich klingt das nach einem ungezogenen Rüpel!«
»Ich finde das toll! Heutzutage habe ich auch ständig Lust, Leute zu ohrfeigen!«
Das wunderte mich nicht – Xiaoxi hatte selbst eine Menge Gewalt mit ansehen müssen in ihrem Leben. Ich erinnerte mich jetzt wieder, warum ich mich damals nicht getraut hatte, ihr näher zu kommen. »Wie hat denn der Taiwaner reagiert?«, fragte ich.
»Er rappelte sich wutentbrannt hoch, es war aber niemand mehr da, den er hätte beschimpfen können. Also fluchte er bloß über das ganze ›unzivilisierte Pack‹. Da siehst du mal, wie ihr Taiwaner immer noch auf uns herabblickt!«
»Ach was! Wie kämen wir denn jetzt noch dazu?« Früher hatten alle ihre Vorurteile über ›die anderen‹ gehabt, ob nun auf dem Festland, in Taiwan, Hongkong oder Macao. Aber heutzutage war das doch alles anders.
»Aus dem Date ist dann wohl nichts weiter geworden?«, wollte ich wissen.
»Er hat sich nach was Jüngerem umgesehen.«
Frauen sollten sich eben doch besser die Haare färben, dachte ich.
»Und sonst? Geht es dir gut?«, fragte ich sie.
Xiaoxi zog nachdenklich die Stirn zusammen und kräuselte die Lippen. Im hellen Sonnenschein traten ihre Fältchen so noch deutlicher hervor. »Ich komme zurecht. Aber die Menschen um mich herum haben sich verändert. Es macht mich traurig. Mich mit dir zu unterhalten hat mir gut getan. Ich hab schon lange mit niemandem mehr so geplaudert …«
Sie verstummte abrupt und blickte abwesend vor sich auf den Boden. Ich folgte ihrem Blick, unschlüssig, ob nun das vielschichtige Muster aus Licht und Schatten, welches die schräg durch die kahlen Baumwipfel einfallenden Sonnenstrahlen auf die Erde warfen, ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, oder ob sie einfach nur ins Grübeln verfallen war. Ein paar Augenblicke später kam sie wieder zu sich. »Ach, ich muss los. Gleich beginnt die Rushhour.«
Ich gab ihr meine Visitenkarte. »Lass uns mal zusammen essen gehen, wir beide, deine Mutter und dein Sohn!«
»Mal sehen«, sagte sie sanft. Dann stand sie auf, sagte: »Ich geh dann« – und ging.
Sie marschierte mit schnellen Schritten davon. Ich sah ihr ungehörig lange nach. Von hinten betrachtet bot sie noch immer einen reizenden Anblick. Ihre Figur, die Art, wie sie sich bewegte – es sah sehr jugendlich aus. Als sie den Ausgang an der Südseite des Parks erreicht hatte, begann ich, beschwingt in Richtung des östlichen Tores zu schlendern. Da fielen mir plötzlich die zwei Kettenraucher wieder ein. Als ich mich umdrehte, hatten die beiden gerade das Südtor erreicht, ich sah noch, wie Xiaoxi sich nach rechts wandte, in Richtung des Museums, dann verlor ich sie aus den Augen; die beiden Kettenraucher warteten einen Moment, dann schlugen sie ebenfalls die Richtung des Museums ein.
Goldene Zeiten in Sanlitun
Mir war nicht danach, schon nach Hause zu fahren, also nahm ich ein Taxi zu Starbucks in Sanlitun. Seit die Kette vom taiwanischen Konzern Want-Want Holdings aufgekauft worden war, hatten ein paar chinesische Getränke Einzug in ihre weltweite Produktpalette gehalten. Der Longjingtee-Latte mit Lychee-Aroma, den ich mir bestellte, war ein wohlschmeckendes Beispiel. In Bagdad, Beirut, Kabul und anderen wieder aufgebauten Städten der islamischen Welt fand er dem Vernehmen nach reißenden Absatz. Selbst in Luanda, Khartum und Daressalam gab es inzwischen erste Filialen von Want-Want-Starbucks – ein neuer Markt, den Want-Want in Kooperation mit einer chinesischen Firma namens EURAFLA Friendly Investment zu erschließen begonnen hatte. Überall dort auf der Welt, wo es Chinesen gab, würde es in Zukunft auch Want-Want-Starbucks geben. Dass man im globalen Handel die eigene Kultur nicht vergaß, war gewissermaßen auch Teil der chinesischen Soft Power.
Hierherzukommen war eine gute Entscheidung
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