Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
das Blatt Papier.
Der Glasmeister zögerte, als machte ihm das Blatt Angst. Wieder zitterten ihm die Hände, ihm, der mit der Präzision eines Chirurgen Glas bearbeitete. Dann nahm er das Papier und las.
»Es müsste hier irgendwo sein …« Andrea machte ein paar Schritte auf den großen Brennofen in der Mitte zu. Dort begann er, den Fußboden zu untersuchen. Es dauerte nicht lang, bis er die in den Stein geritzte Zeichnung entdeckt hatte. Er kniete nieder und blies den Staub von der Marmorplatte. Ein winziges Dodekaeder. Er nahm eine Glasscherbe vom Boden und ritzte damit den Mörtel im Spalt um den Stein auf. Der Mörtel ließ sich leicht entfernen, er schien erst vor kurzem aufgetragen worden zu sein. Ein Druck mit den Fingern genügte, und der Stein ließ sich anheben. Darunter verbarg sich eine dunkle Höhlung, aus der Wind aufstieg.
»Die Bücher sind in Sicherheit, seid unbesorgt.«
Andrea hob den Kopf. Jacomo stand einen Schritt neben ihm und beobachtete ihn. Kniend fühlte Andrea sich noch lächerlicher. Er richtete sich auf.
»Nur das hier fehlte …«, fügte der Alte hinzu, den Timaios hochhebend.
»Ihr habt alles gewusst!«, rief Andrea aus. »Und noch immer spielt Ihr Verstecken mit mir!«
»Ich habe nur versucht, Euch zu schützen.«
»Warum solltet Ihr das tun?«
»Hört mir zu!« Jacomo trat näher und zeigte auf das Buch. »Dieses Buch ist das wichtigste von allen. Ihr habt die platonische Folge der sieben Zahlen benutzt, aber damit habt Ihr nur einen winzigen Teil enthüllt.«
Jacomo blätterte wieder in dem Buch, er suchte nach einer bestimmten Stelle. » Darauf füllte er die zweifachen und dreifachen Abstände dadurch aus, dass er noch mehr Teile abschnitt und sie zwi s chen dieselben stellte, so dass sich zwischen jedem Abstande zwei Mittelglieder befanden, deren eines um denselben Teil der äußeren das eine äußere übertraf, um welches es von den anderen übertroffen wurde .«
Er schloss das Buch und sah Andrea an. »Es gibt unendlich viel mehr Zahlenkombinationen, als Ihr denkt.« Er schwenkte das Buch durch die Luft. »Auf diesen Seiten ist die Satzung des Bundes der Wächter verzeichnet, mitsamt aller Namen der Gründer und der neu hinzugekommenen Mitglieder. Namen, die Euch in Erstaunen versetzen würden, es sind Dogen dabei und sogar ein Papst. Auch sind die Orte beschrieben, wo die Bücher versteckt wurden. Ihr versteht jetzt, dass der Besitz dieser Chiffre ungeheure Macht bedeutet. Denkt nur, welchen Gebrauch die Inquisition davon machen könnte.«
Jacomo gab Andrea das Buch zurück.
»Es gehört Euch, wie auch die anderen Bücher. Eure Mutter hat sie Euch hinterlassen, damit Ihr sie beschützt.«
Andrea sah ihn an, er war außerstande, sich über ihn zu ereifern. Ein Gedanke überfiel ihn, und die Worte kamen ohne sein Zutun: »Erzählt mir von ihr.«
Der Alte seufzte. Er konnte sich nicht mehr widersetzen. Er wollte es nicht. Auch sie hätte es nicht gewollt.
»Ich habe Lucrezia geliebt«, sagte er mit einem feinen, melancholischen Lächeln und blickte Andrea dabei fest an. »Ich habe sie immer geliebt.«
Andrea schlug die Augen nieder.
»Es begann genau hier, in dieser Glashütte. Ich habe es Euch schon erzählt. Wie waren Kinder und spielten zusammen. Ich war das Kind eines Glasmachers, Lucrezia die Tochter eines Adeligen, eines sehr bekannten, sehr reichen Mannes.« Jacomos Erzählung spann sich fort, nahm einen Weg, der Andrea glaubwürdig und aufrichtig erschien. Von jener glücklichen Kindheit bis zur frühen Jugend wuchs diese heimliche Liebe mit ihnen. Dann kam Lucrezias Vater eines Tages mit der Nachricht, dasser eine ausgezeichnete Partie für sie gefunden habe: Pietro Loredan, ein Kaufmann aus der besten Gesellschaft, siebenunddreißig Jahre alt, doppelt so alt wie Lucrezia.
Jacomo verstummte, schloss die Augen, durchlebte jenen Schmerz noch einmal.
»In jenen Tagen«, hub er wieder an, »im Februar 1518, wurde mein Bruder Bernardo bei einem Streit getötet. Ich erfuhr, dass es ein gewisser Stefanin aus Korfu gewesen war. Ich schwor ihm Rache. Einen Monat später wurde er tot im Kanal gefunden. Man gab mir die Schuld. Sie hätten mich gehängt, wenn Lucrezia ihren Vater nicht überzeugt hätte, sich für mich zu verwenden. Ich bekam drei Jahre Gefängnis in Malpaga. Dafür musste sie Pietro heiraten.«
Das Meer nimmt. Das Meer gibt zurück, dachte Andrea. Alles war ihm genommen worden. Alles kehrte jetzt zurück. Man muss sich nur den Gezeiten
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