Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
mit etwa fünfzig Einwohner Muranos, die ihren Rausch zu Hause ausschlafen wollten. Das Dodekaeder und den Timaios schützte ein hölzernes Kästchen, das er in einem Ledersack auf dem Rücken trug. Die Tramontana wehte so stark, dass man sie mit dem Nordwindhätte verwechseln können. Doch die Fischer, die Eigentümer des großen Bootes waren und in dieser Nacht Fährleute spielten, hatten Erfahrung und wollten an den Fahrten verdienen. Nachdem sie die Passagiere beruhigt und am Großmast ein einziges, von zwei zusätzlichen Wanten gesichertes Segel gehisst hatten, das aus Holz gemacht schien, so dick war es, richteten sie den Bug auf den Leuchtturm von Murano, segelten im Windschatten an San Michiel vorbei und erreichten in weniger als einer halben Stunde das geschützte Ufer von Santa Chiara, wo Andrea sofort wieder den intensiven Geruch nach Glas wahrnahm.
Das sandige Ufer hatte eine beleuchtete Anlegestelle, und eilig liefen die fröstelnden Passagiere, deren Kleider von den Spritzern der Wellen völlig durchnässt waren, über die Holzbohlen. Die Nüchternen stützten die Betrunkenen, Frauen umarmten schützend ihre Kinder.
Andrea mischte sich unter die Menge und half einer alten Frau, die Trinkgläser in San Marco verkauft hatte. Im Vergleich zum lärmenden Irrsinn in der Stadt wirkte Murano wie eine Toteninsel, und das Heulen der Tramontana, die Bäume umbog und an den Häusern wetzte, machte den Anblick noch gespenstischer.
Zweifellos war es auch hier hoch hergegangen, denn die von den Böen gepeitschten Fondamenta Santo Stefano waren übersät mit Glasscherben, die unter den Schuhsohlen knirschten, und man musste achtgeben, sich nicht in die Füße zu schneiden. Hie und da standen noch nackte Tische vor den Osterien, Stühle und Bänke waren umgekippt, Tischtücher rollten über die Straße, Draperien flatterten im Wind. Andrea, der in der Festbeleuchtung und im Lärm Venedigs jegliches Zeitgefühl verloren hatte, erkannte, dass er sich in der trägen Phase des Tagesanbruchs befand, die noch ganz von der Nacht umfangen ist und die meisten Menschen schlafend antrifft, während sie Dieben freie Bahn verschafft.
Langsam löste sich die Gruppe auf, die Menschen kehrtenin ihre Häuser ein, und Andrea blieb allein zurück. Zwanzig Schritt hinter ihm beschloss Angelo Riccio, keine zufällige Begegnung zu riskieren und Andrea einen größeren Vorsprung zu lassen. Seine Hand fuhr in die Tasche seines Wamses. Er hatte fünf fertige Ladungen für die Pistole, Pulver und Blei zusammen in einem papiernen Behälter. Fünf Gelegenheiten, außerdem den Schuss im Lauf und zwei scharfe Stilette.
An den gegenüberliegenden Fondamenta des Rio färbten sich die hohen Fenster der Glasbrennereien von Zeit zu Zeit glühend rot, wenn das Feuer in den Brennöfen aufloderte, ein Zeichen, dass dort drinnen Menschen arbeiteten. Denn das Feuer ist das Leben der Glashütte, es muss immer brennen. Wie der Hass und die Liebe.
Die Glasbrennerei Vivarini trotzte den kalten Winden aus Nordost mit ihrer zum Canal grando de Muran gelegenen Seite, einer mit Efeu und Moos bewachsenen Wand aus Backsteinen, in deren Mitte sich das Einfahrtstor für den Transport des Materials vom oder zum Bootsanleger befand.
Der Haupteingang war, den Gesetzen der Luft und ihren Launen gehorchend, an der lauwarmen Südwand eingerichtet worden, wo ein kleiner, dicht mit Weißdornbüschen bewachsener Platz die Wucht des Schirokko und des Libeccio milderte. Die große rechteckige Eingangstür hatte zwei Flügel aus Kernholz, die mit bronzenen Einfassungen und kupfernen Beschlägen verstärkt waren. In einem der beiden Flügel befand sich ein kleines Türchen für den täglichen Gebrauch, um die Luftzüge, die schädlich für das Glas und gefährlich für die Brennöfen und Schmelztiegel waren, auf ein Minimum zu beschränken.
In dieser Nacht der Wirbelwinde aus allen Richtungen schaukelte das Schild mit dem Drachen knarrend hin und her. Es war kalt, und in der Luft lag bereits ein feiner, kristalliner Duft nach Schnee, den die über Alpengletscher fegenden Winde mit sich trugen.
Andrea blieb vor dem Eingang stehen. Er dachte an den »Edelstein des Himmels«, an den Timaios , an die Worte, die seine Mutter ihm hinterlassen hatte, an die liebevollen Briefe, die Jacomo Dragan ihm während seines Exils in Candia regelmäßig geschrieben hatte. Der erste Brief war eine Überraschung gewesen, der zweite hatte ihn mit ausführlichen Berichten über Neuigkeiten
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