Die Finsternis
auf dem Sitz hinter mir lag.
Gemmas blaue Augen weiteten sich. »Du hast doch nicht etwa vor, da rauszugehen?«
»Wie soll ich den Anhänger denn sonst an dem Aluminiumklotz befestigen?«
»Na, mit diesen Greifarm-Dingern.«
»Das würde ewig dauern.« Ich lief zwischen den Sitzen entlang in Richtung Ausstieg.
»Du hast gesagt, dass Meerestiere von überall abgewandert sind. Was, wenn die Meeresströmungen nicht nur den ganzen Müll hierhergetragen haben? Dann könnte da draußen doch alles Mögliche lauern.«
Natürlich hatte sie vollkommen Recht. Die Fischer zogen ständig Meereslebewesen aus dem Atlantik, die normalerweise nur im Pazifik oder vor der Küste Australiens vorkamen. Doch während der Großen Flut war so viel Land überschwemmt worden, dass sich zwischen den Ozeanen neue Kanäle gebildet hatten.
»Mir wird schon nichts passieren«, sagte ich und hoffte, dass das stimmte. Ich biss auf den Liquigen-Schlauch im Inneren des Helms und saugte den flüssigen Sauerstoff ein. Dann ließ ich mich durch die Einstiegsluke im Boden des Kreuzers fallen.
»Na, hoffentlich«, hörte ich sie durch den Empfänger in meinem Helm sagen. »Wenn ich nämlich aussteigen muss, um dich zu retten, würde das meinen Tag ruinieren.«
Das war noch milde ausgedrückt. Sie hatte seit mehr als einem Monat nicht einmal einen Zeh ins Meer getaucht. Eine Tatsache, die mir Kummer bereitete. Aber heute hatte sie zugestimmt, mit dem U-Boot rauszufahren – zum ersten Mal seit Wochen –, vielleicht würde sie eines Tages auch versuchen, wieder zu tauchen.
Da ich mit dem Liquigen in der Lunge nicht sprechen konnte, signalisierte ich ihr mit erhobenem Daumen, dass alles in Ordnung war. Mit drei kräftigen Zügen war ich am Heck des Kreuzers, obwohl der Auftrieb so stark war, dass es mich große Anstrengung kostete, die Höhe zu halten. Nachdem ich das Schleppseil des Anhängers an meinem Tauchgürtel befestigt hatte, schwamm ich auf das mit Algen bedeckte Flugzeugteil zu.
Plötzlich streiften Dutzende große Schatten an mir vorbei. Ich hielt an und sandte mithilfe meiner Dunklen Gabe Schallwellen in ihre Richtung. Wenig später sah ich vor meinem geistigen Auge, dass es sich um Dornhaie handelte – eine Haiart, ja, aber keine, die Menschen gefährlich werden konnte. Trotzdem gefiel mir ihre hektische Art zu schwimmen nicht – es schien, als würden sie fliehen.
Ich schickte weitere Klicks in die Finsternis. Bange Sekunden verstrichen. Als das Echo endlich zurückgeworfen wurde, war das Bild, das sich daraus formte, zu verwirrend, um mir von Nutzen zu sein. Weit unter mir befand sich eine Ansammlung verfallener Schiffswracks, die von der Strömung dorthin getrieben worden waren. In dem riesigen Schiffsfriedhof gab es massenweise Vertiefungen und Spalten, in denen alles nur Erdenkliche vor meinem Blick verborgen lauern konnte – Dunkle Gabe hin oder her. Ein schauriger Gedanke.
Trotzdem war ich froh über mein Biosonar. Was spielte es schon für eine Rolle, dass Topsider-Ärzte die Dunkle Gabe, über die wir im Meer Geborenen verfügten, darauf zurückführten, dass der Wasserdruck unsere Gehirne beeinträchtigte? Ich fühlte mich gut und gesund. Und ich war erleichtert, dass sich meine Eltern nicht mehr ständig Sorgen um mich machten. Es waren erst vier Monate vergangen, seit sie erfahren hatten, dass die Dunkle Gabe kein Mythos war und dass ihre zwei Kinder diese Gabe besaßen.
Weil ich mir kein genaues Bild von dem Haufen aus Wrackteilen unter mir machen konnte, konzentrierte ich mich wieder darauf, eine Stelle an dem Flugzeugteil zu finden, an der ich den Anhänger befestigen konnte. Ich hatte gerade eine Fensterreihe entdeckt, die geeignet schien, als Gemmas Schrei in meinem Helm widerhallte. Ich wirbelte zum Kreuzer herum und nahm dabei aus dem Augenwinkel eine riesige Gestalt wahr, die reglos neben mir schwebte.
Nach nur einer halben Drehung sah ich mich einem gewaltigen Tintenfisch gegenüber. Er hatte sich senkrecht aufgestellt und sein fast zwei Meter langer, purpurroter Körper war so massig, dass ich ihn nicht mit den Armen hätte umfassen können, wenn ich es denn gewollt hätte. Der Tintenfisch verharrte auf der Stelle und beobachtete mich. Als seine Haut erst neonweiß und dann blutrot aufleuchtete, kam mir ein Name in den Sinn – Diablo Rojo – der Rote Teufel, eine Kreatur, deren Ruf noch erschreckender war als ihr Anblick.
Ich versuchte zu verdrängen, was ich über diese Art von Tintenfisch
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