Die Flammenfrau
Dunkelheit.
14
Langsam wanderte Mirka im Mondschein über die Hügel. Sie lenkte ihre Schritte hinunter zum Meer. Ein leichter Wind wehte von der See herüber, und es roch angenehm nach Fisch und Salz. Mirka hatte die kleine Brunhild vor einiger Zeit ins Bett gebracht und war dann zu ihrem abendlichen Spaziergang aufgebrochen. Ihre Hände spielten gedankenverloren mit dem Rubin, den sie seit Luovanas Tod trug. Brunhild würde diesen Stein am Tage ihrer Ernennung zur Hüterin des Feuers von den Gwenyar bekommen, aber bis dahin, so hatte die Hohepriesterin verfügt, sollte Mirka den Rubin tragen.
Der weiche Sand gab unter Mirkas Füßen nach. Er war noch warm vom Sonnenlicht des Tages. Von dieser Stelle aus wurden die Schiffe der Gwenyar zu der Insel mit den Gärten gesandt. Auch Luovanas Schiff war von hier aus auf die See hinausgetragen worden, Blumen waren über dem Boot verstreut und die Segel waren aus weißem, schwarzem und rotem Tuch gewesen. Mirka erinnerte sich ungern an diesen traurigen Tag. Als die Priesterinnen das Boot zu Wasser ließen, hatte Arma fürchterlich geschrien. Sie hatte verzweifelt immer wieder nach Luovana gerufen und sich in die Fluten gestürzt. Wie von Sinnen war sie dem Boot noch eine Weile nachgeschwommen. Mirka hatte schon Sorge gehabt, daß die Kriegerin diesen Tag nicht überlebte. Lange hatte sie damals am Strand gewartet, bis Arma zurück an Land kam. Niemals würde sie den leeren Blick vergessen, mit dem Arma ihr bei Sonnenuntergang entgegengekommen war.
»Jetzt werde ich mich um meine Tochter Brunhild kümmern«, hatte sie gesagt und war zur Höhle gegangen, in der das kleine Mädchen schlief.
Mirka seufzte. Luovanas Abreise zu den Gärten war nicht wie sonst, wenn einer von ihnen ging, ein Fest der Freude gewesen. Die Hüterin des Feuers war vor ihrer Zeit gegangen, das machte die Geschichte so traurig.
Mirka schaute hinauf zu den Felsenklippen, die zwischen den grünen Hügeln und dem Meer lagen. Der Mond schien nun klarer, er hatte die Wolken hinter sich gelassen. Sein silbernes Licht spiegelte sich in den Wellen.
Etwas hatte sich dort oben zwischen den Steinen bewegt.
Reglos blieb Mirka stehen und suchte mit den Augen die Felsen ab.
Dann sah sie ihn. Ein Mann stand zwischen den grauen Steinen und schaute auf das Meer hinaus. Was tat er da? Der Mann war nicht aus dem alten Volk, sonst hätte Mirka ihn kaum entdecken können. Ihm fehlten die Fähigkeiten, sich zu verbergen. Außerdem war ein großer Teil der Männer des alten Volkes mit den Schiffen unterwegs. Wenn die Boote jedoch für eine Weile hier am Wasserfall anlegten, feierte das ganze Volk ein großes Fest. Dann tanzte Camire, die Hohepriesterin, vor dem Tempel den Tanz des Frühlings.
Mirka mochte ihre Gesellschaft gern. Es waren schöne Männer. Sie waren freie, stolze Streiter der Göttin. In ihren klaren Augen konnte man mühelos die Gesinnungen ihres Herzens lesen. Ein jeder von ihnen war ein Meister mit Pfeil und Bogen. Manchmal bedauerte Mirka, daß sie nicht häufiger hier waren.
Sie betrachtete wieder den Fremden, der oben an dem Felsen lehnte. Es war ausgeschlossen, daß er einer aus dem alten Volk war. Aber wer, überlegte Mirka, betrat sonst den heiligen Ring der Göttin, ohne eingeladen zu sein?
Ein kalter Wind kam auf, und dunkle Wolken zogen drohend vom Meer auf sie zu. Mirka warf wieder einen Blick auf den Mann. Sie musterte ihn durchdringend, dann plötzlich erkannte sie ihn. Es war Pyros. Er war also tatsächlich gekommen. Sie hatte schon damals, kurz nach Luovanas Tod, mit ihm gerechnet. Camire, die Hohepriesterin, hatte sogar kurzzeitig den Tempel bewachen lassen, aber als sich nichts rührte, war das Leben im Tal der Göttin wieder seinen normalen Weg gegangen.
Daß Pyros eines Tages kommen würde, mit der Absicht, seinen Vater zu befreien und die Gwenyar zu vernichten, war allen klar, aber es konnte schließlich Ewigkeiten dauern. Es hatte auch fast Ewigkeiten gedauert! Draußen jenseits des heiligen Ringes waren sieben Winter vergangen.
Einen Augenblick lang fragte Mirka sich, warum Pyros sie nicht bemerkte. Er hatte zwar nicht die gleichen Fähigkeiten wie ein Mann aus dem alten Volk, aber er war ein mächtiger Magier. Wieso sah er sie nicht? Wieso hatte er überhaupt zugelassen, daß sie ihn bemerkte. Offenbar war er sich seines Sieges sehr sicher?
Mirka schaute zurück. Weit hinter ihr auf dem hohen Hügel lag der Mondscheintempel. Dort schlief die kleine
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