Die Flammenfrau
Brüllend fuhr das zuckende Feuer aus dem Himmel geradewegs in das Dach des Tempels. Steine splitterten, und das Gebälk brach, als hätte eine gewaltige Faust zugeschlagen. Mirka hielt den Atem an. Eine riesige Flammenwand schoß aus dem weißen Haus empor und setzte auch Teile des Hügels in Brand. Die Priesterinnen hörten auf zu singen. Statt dessen war ein lautes, schrilles Pfeifen zu hören, das surrend durch die Luft schwirrte.
Mirka hielt sich die Ohren zu. Das war der Ton der Göttin. Wahrscheinlich versuchten die Frauen, damit den Magier aus dem heiligen Ring zu vertreiben, ähnlich wie der singende Pfeil damals in der Wasserhöhle Erna vertrieben hatte. Aber in einer Höhle war ein solch schriller Ton durchdringend, da er sich an den Wänden brach und widerhallte. Hier, auf freiem Gelände, würde er einem Magier wie Pyros kaum Einhalt gebieten.
Mirka konnte den Blick nicht von dem brennenden Tempel abwenden. Blindlings rannte sie auf das Feuer zu. Mit fliegenden Haaren kam sie am Fuß des Hügels an. Es durfte nicht wahr sein! Pyros hatte das Haus der Göttin wirklich zerstört, und die kleine Brunhild war noch im Tempel!
Mit klopfendem Herzen rannte sie den Hügel hinauf. Zwei Priesterinnen liefen ihr entgegen; sie waren von dem sprühendem Feuer verletzt worden.
»Mirka, bleib hier, geh nicht hinauf!« rief ihr eine besorgte Stimme nach, doch Mirka dachte nur an das Kind und lief weiter.
Plötzlich fühlte sie sich von einem festen Griff gehalten. Eine Frau im schwarzen Gewand stand, wie aus dem Nichts aufgetaucht, neben ihr und hielt sie zurück.
»Laßt mich, ich muß die Kleine retten«, keuchte Mirka. Eilig versuchte sie sich loszureißen, doch die Frau hielt sie umklammert. Plötzlich spürte sie eine große, tiefe Ruhe in sich. Alle Angst glitt von ihr ab, in ihr war nur noch Frieden. Sie schaute auf. Camire nahm ihre Hand fort. »Das Kind, das du suchst, Mirka, ist nicht hier.«
»Aber…«
»Später«, unterbrach die Hohepriesterin sie. »Komm jetzt, ich brauche dich.« Mirka kämpfte einen Augenblick mit sich, dann folgte sie schweigend der Frau über den Kamm des Hügels hinweg zum Wasserfall. Camire schien keinen Blick für den zerstörten Tempel zu haben, sondern ging daran vorbei hinunter zum See. Sie lief nicht einmal. Mirka wunderte sich. Ging es hier nicht um das Leben des ganzen Volkes?
»Was habt Ihr vor?« Sie blieben vor dem Wasser stehen.
Erstaunt sah Mirka, wie die Hohepriesterin ihr schwarzes Gewand ablegte. Sie schritt damit auf sie zu und legte es ihr um die Schultern.
Der Wasserfall rauschte leise in den klaren See hinab. Hier, auf der anderen Seite des Hügels, war es noch still und dunkel, denn der Feuerschein des brennenden Hauses war nur schwach über dem Gipfel zu sehen.
Mirka schaute zum Himmel hinauf. Keine Wolken, selbst der Mond spiegelte sich noch in dem See. Soweit reichte die Macht des Magiers also noch nicht.
»Du wirst den Tempel wieder aufbauen«, sagte Camire. »Auf deinen Schultern wird es liegen, das Erbe dieses Volkes nach der Zerstörung wiederzufinden. Gehe zur alten Ramee. Du wirst sie und die anderen in einer Höhle jenseits der kleineren Hügel am Strand finden. Als ich wußte, daß Pyros kam, habe ich alle dorthin geschickt. Wenn du in diesem Gewande vor Ramee trittst, wird sie wissen, daß du die neue Hohepriesterin der Gwenyar bist. Alle werden dir folgen.«
»Aber ich kann doch nicht…«
»Die Göttin hat entschieden, außerdem bleibt nicht viel Zeit. Pyros wird bald kommen und diesen See mit Feuer übergießen, um seinen Vater zu befreien.« Camire unterbrach sich und warf einen Blick auf den Wasserfall. Dann wandte sie sich wieder an Mirka.
»Ramee wird dich lehren, was du wissen mußt. Habe Vertrauen.«
»Und Brunhild?«
Die Priesterin lächelte. »Das Mädchen hatte beschlossen, ausgerechnet heute den Tempel zu verlassen. Brunhild wird die kleine Bucht unten am Meer sicher erreicht haben.«
»Aber dort ist Pyros«, sagte Mirka. Sie spürte, wie die Angst zurückkehrte.
»Ruhig, mein Kind, er will nicht Brunhild. Selbst wenn er sie bemerkt, ist es ihm gleich. Er will nur Elinor befreien. Der Geist des Alten quält ihn seit langem Nacht für Nacht. Ich weiß es schon länger.« Sie schaute auf das Wasser. »Ich weiß, daß Pyros keine Ruhe mehr findet. Er ist dem Wahnsinn nahe.«
»Das klingt, als habet Ihr Mitleid«, bemerkte Mirka erstaunt.
»Mitleid?« Die Priesterin zuckte mit den Schultern. »Das wird sich
Weitere Kostenlose Bücher