Milchmond (German Edition)
Kapitel 1
Tobias Steinhöfel war im Großen und Ganzen zufrieden. Er hatte soeben den wichtigen Prozess wegen Insolvenzverschleppung für seinen Mandanten gewonnen. Mit seinem schweren Aktenkoffer trat er nach draußen, in den trüben, regnerischen Novembermittag. Ein leichter Sprühregen wehte ihm entgegen, als er mit Thomas Spreizer, seinem Mandanten, die Treppe des Gerichtsgebäudes hinab schritt.
Auf dem Gehsteig angekommen versuchte Spreizer, seinen Strafverteidiger zum Mittagessen einzuladen. Tobias schlug die Einladung mit dem Hinweis auf einen nächsten Termin freundlich aber bestimmt aus. Das hätte ihm jetzt noch gefehlt. Über ein Jahr lang hatte er die wichtigtuerische Art von Spreizer ertragen müssen. Er hatte ihn 'rausgehauen, okay. Dennoch war Tobias von dessen Schuld überzeugt.
Das waren die Momente, die er an seinem Beruf hasste: Schuldige vor dem gerechten Urteil des Gerichts zu bewahren. Er fühlte sich immer großartig, wenn er von der Unschuld seiner Mandanten überzeugt war und dies dem Gericht zweifelsfrei beweisen konnte. Leider hatte sein Beruf aber auch die Schattenseite, Schuldige durch sein Können vor der gerechten Strafe zu bewahren.
Dieser Freitag war so ein Tag, an dem er sich nicht so recht über seinen Erfolg freuen konnte. Er atmete tief durch, als er sich von Spreizer verabschiedete und die paar Meter zu seinem Wagen ging. Er stellte den Aktenkoffer in den Kofferraum seiner eleganten Limousine, legte den Mantel auf den Rücksitz und stieg ein.
Er freute sich schon darauf, gleich gemeinsam mit Sylvia im Toni's einen kleinen Imbiss einzunehmen. Sie hatte ihm eine SMS geschickt, dass sie dort auf ihn wartete. Er reihte sich in den träge dahin fließenden Verkehr ein. Toni's lag zehn Minuten entfernt und war Sylvias Stamm-Italiener. Die Leute aus ihrem Sender gingen gerne dorthin, und wann immer sie es einrichten konnten, traf er sich dort mit Sylvia auf ein gemeinsames Mittagsessen.
Als er das Lokal betrat, nickte ihm Toni freundlich zu und wies mit dem Kopf auf ihren Tisch im rückwärtigen Teil des Raumes. Sie erwartete ihn bereits. Wie schön sie war, dachte er. Sie saß mit dem Rücken zur Wand, so dass sie ihn schon beim Eintreten bemerkte. Sie lächelte ihm entgegen, und er spürte, wie seine gute Laune zurückkehrte. Zur Begrüßung beugte er sich zu ihr hinunter und küsste sie leicht. Dabei drückten sie ihre Hände in vertrauter Harmonie.
»Hallo Schatzi! Na, wie ist es ausgegangen?«
»Wir haben gewonnen, wie erwartet«, seufzte er und griff zur Karte. »Freispruch, wegen Mangels an Beweisen. Verdient hat dieser Spreizer es nicht, wenn du mich fragst.«
»Mal wieder Katzenjammer, Herr Advokat? Mann, das ist dein Job! Du kannst nicht nur den Gut-Menschen geben, die Schlechten in den Kerker, die Guten rausschlagen. Dann hättest du Richter werden sollen!«
Da hatte sie Recht. Tatsächlich hatte er zum Ende seines Studiums einige Zeit lang erwogen, das Richteramt anzustreben, allerdings sprachen seine Zensuren deutlich dagegen. Ins Richteramt konnte nur kommen, wer mit hervorragendem Notenschnitt aufwarten konnte. Allerdings mochte er die Auseinandersetzung, den Kampf, das Ringen, welches sein Berufsstand mit sich brachte. Auch wenn er manches Mal Lust gehabt hätte, einen in seinen Augen schuldigen Mandanten ins Messer laufen zu lassen, so musste er sich insgeheim doch eingestehen, dass er seine Erfolge in erster Linie an den gewonnenen Prozessen derer festmachte, die es eigentlich nicht verdient hatten. Ein unauflösbarer Widerspruch, mit dem er würde leben müssen.
»Ja, ja, du hast Recht. Du kennst mich ja, ich mit meinen widersprüchlichen Einstellungen. So, nun lass uns von etwas anderem sprechen. Hast du schon etwas in der Karte gefunden?«
»Ja, ich nehme Mineralwasser und überbackenen Ziegenkäse mit Tomaten.«
Tobias entschied sich für einen Thunfischsalat und eine große Apfelschorle. Nachdem die Bedienung die Bestellung aufgenommen hatte, musterte Tobias Sylvia. Sie bemerkte es.
»Ist etwas?«
»Ja, kann man so sagen!« Ihre Augen verrieten Interesse. Sie war schon von Berufs wegen neugierig, einer der Gründe, warum sie Redakteurin geworden war.
»Und?«, drängte sie.
»Ich habe für heute Abend Karten fürs Schauspielhaus bekommen: Der Besuch der alten Dame von Dürrenmatt. Kennst du das Stück?«
Sie schien wenig begeistert und verneinte. Ihr
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