Die Fliege Und Die Ewigkeit
es möglich ist, dass man hier bei Freddy’s sitzt und wie man sich denn von hier fortbegeben will? Begreift man nicht, dass etwas anderes vor sich geht? Dass es eine andere Wirklichkeit und andere Aufgaben gibt, denen man sich widmen muss? Eine andere Strömung im Dasein, deren Sog so viel stärker ist, deren Wasser so viel klarer ist. Deren Ziel so viel wertvoller ist, versteht man das wirklich nicht?
Nein, Maertens versteht überhaupt nichts. Er beendet sein Grübeln und will nicht mehr zuhören. Ist der Meinung, dass die Stimme an diesem Abend wie ein scheinheiliger und umnebelter Seelenfischer klingt, und trinkt entschlossen ein Bier, um sie abzustellen. Es schmeckt nach Metall auf der Zunge. Eisen wahrscheinlich.
Er sehnt sich nach Hause. Heim zu seinem Schauspiel mit den alten Gestalten und ihrem unveränderlichen Leben.
Bevor sie sich für diese Nacht voneinander verabschieden, bittet er Bernard noch um einen Gefallen. Er bittet ihn anzurufen, sobald er zu Hause angekommen ist.
Nur anzurufen und ein paar Minuten in den Hörer zu schweigen. Oder bis er, Maertens, selbst auflegt. Bernard versteht zunächst nicht den Sinn dieser Bitte und argumentiert eine Weile. Sie stehen draußen vor dem Sportplatz unter einer Straßenlaterne. Bernard hält sich an ihr fest und gestikuliert eifrig mit dem anderen Arm. Es ist deutlich zu merken, dass er betrunkener als üblich ist, sein gedrungener Körper sieht unter dem unruhigen Licht grotesk aus. Ein boshafter Zwerg. Ein geiles Gorillamännchen.
»Was zum Teufel meinst du, Maertens?«, fragt er zum fünften Mal. »Erklär mir zum Teufel, was du meinst?«
Maertens schüttelt den Kopf. »Mach es, wie du es für richtig hältst, Bernard«, erklärt er. »Entweder du rufst an, oder du lässt es bleiben. Ich erkläre es dir ein andermal.«
Er verlässt Bernard, geht das letzte Stück allein. Es hat angefangen zu schneien. Mit seinen Händen versucht er die leichten Flocken aufzufangen, aber sie sind so durchscheinend, dass sie schon die Nähe seiner Haut nicht zu ertragen scheinen.
Und nicht den geringsten Augenblick einer Berührung.
Das Telefon klingelt jedenfalls. Natürlich, sie kennen sich ja schon lange.
Wieder einmal steht er auf dem Flur und horcht auf das Schweigen. Es ist bei weitem nicht das gleiche. Deutlich, ganz deutlich kann er Bernards schwere Gestalt am anderen Ende des Drahtes vernehmen. Er legt nach weniger als einer Minute auf, spürt, dass er vom Kalbsragout Sodbrennen bekommen hat, und trinkt ein Glas Selters, bevor er ins Bett geht.
Nichts ist passiert, denkt er. Nichts, was diesen Tag von allen anderen Tagen im Leben unterscheidet. Ob es sich nun um seine eigenen oder die aller anderen handelt. Absolut nichts.
4
I m Gefängnis stellte er sich diese Frage:
Ist ein Mensch, der vierzehn Jahre seines Lebens verloren hat, älter oder jünger als sein eigentliches Alter?
Erst als er wieder freigekommen war, begriff er, dass keine der beiden Alternativen richtig war. Es war einfach nur eine dieser immer wieder auftauchenden Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Fragen in fremden Federn. Der siebenunddreißigjährige Mann, der die Haftanstalt mit schlechter Haltung und durchsichtiger, bleicher Gefangenengesichtsfarbe hinter sich ließ, war etwas anderes. Etwas radikal anderes. Die Frage nach dem Alter war beliebig und inhaltslos, plötzlich gab es nur Raum, gibt es nur Raum, Jahr für Jahr hat er gezählt und in alle erdenklichen Zeitabschnitte eingeteilt: Monate, Wochen, Tage – und die kleineren Einheiten: Sekunden, bis das Duschwasser abgestellt wird, Minuten, die der Abendfreigang noch währt, Stunden, in denen das Licht des Morgengrauens in sein Zellenfenster fällt und ein Muster wie das eines unregelmäßigen Sterns an die Wand wirft ... aber als er schließlich herauskommt, als er schließlich frei ist, bleibt all das mit der Zeit hinter den Mauern zurück.
Vieles andere auch. Das Bild von seinem Leben beispielsweise.
Das wird ihm erst viel später bewusst. Das mit dem Bild. Nachdem Jahr um Jahr vergangen ist, nachdem er Bernard wiedergetroffen und ihm erzählt hat, wer er eigentlich ist.
Gewesen ist. Bernard und Birthe. Die, die davon wissen.
Bei einem Glas Bier in Darms vernebeltem Café kratzt Bernard seine Pfeife aus und fragt: »Was für ein Bild hast du von deinem Leben?«
Er antwortet ausweichend, dass er keines habe. Bernard stopft den Tabak umständlich nach und lässt nicht locker. Versucht zu
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