Die Fliege Und Die Ewigkeit
erklären, worum es bei der Frage geht, was es bedeutet, ein Bild von seinem eigenen Leben zu haben. Etwas, das alle in sich tragen sollten: etwas, das unumgänglich ist, ein Spiegel, ein Muttermal. In schlechten wie in guten Zeiten.
Das Bild.
Aber Maertens hat keins. Er hatte wohl eins bis zum Alter von dreiundzwanzig Jahren, aber jetzt gibt es keines mehr.
Kein Bild von seinem Leben. Nur das Leben selbst. Bernard zündet sich die Pfeife an und zieht einen Rauchvorhang vor.
Denn als er herauskam, da gab es nur einen Anfang. Vielleicht die Andeutung einer Richtung, aber mehr nicht, die ersten Schritte den Anstieg eines riesigen Berges hinauf. Mit dem Rücken zur Steilwand. Kein Punkt, an dem irgendetwas anfängt. Keine Basis, um etwas aufzubauen, und keine Verbindungsglieder. Er hat später nicht mehr begriffen, was es denn hätte sein sollen, was er erwartet hatte. Stand nur mit den Händen in den Taschen da und einer bleichen Sonne im Gesicht, plötzlich etwas so verdammt Übermächtigem gegenüber, einer neuen Felswand, einem Wald aus dichter, nicht festgezurrter Zeit, die so dicht um ihn herum wuchs, dass ihre Zweige seine Haut zerkratzten und tief in seinen Blutkreislauf hineinragten. Mitten ins Leben geworfen, ein Fötus mittleren Alters ohne Heute und Morgen. Ein Soldat im fremden Land. Weder noch.
Ungefähr so.
Als er sich an diesen Zustand gewöhnt hatte, wurde er ihm schließlich vertraut wie die eigenen Hände. Von dieser Plattform aus begann er. Ohne Vorstellung von Ziel oder Sinn, nie mehr als einen Tag im Fokus. Oft nur ein paar Stunden.
Und er verwarf seinen Namen. Vielleicht hatte er ja geglaubt, dass er im Laufe der Jahre in Vergessenheit geraten würde, aber dem war nicht so. Er lernte das herostratische Gesetz und konnte darüber lachen: dass die meisten aus dem Gedächtnis der Allgemeinheit verschwinden – Staatsmänner, Helden, gefeierte Künstler und Ähnliches –, dass man jedoch niemals einen Missetäter vergisst. Einen Mörder vergisst man nicht.
So wurde er Maertens. Wenn es nur um ihn gegangen wäre, er nur sich selbst vor Augen und im Spiegel sähe, dann hätte er gut mit dem Namen der Schande leben können. Es störte ihn nicht in seinem neuen Leben. Aber es gab da einen Faktor. Einen einzigen, der ihn mit der Haftzeit verband... nicht mit dem Gefängnis, sondern mit der Zeit, ein dünner Faden, ein Nabelstrang, eine Unzeitgemäßheit, mit der er nie abschließen konnte.
Es gab eine Frau.
Birthe.
Sie erschien wie ein Engel in diesem schwarzen zehnten Jahr, und sie wurde die Seine. Verlassen von einem Seekadetten – der sich, statt ihr das Leben in Glanz und Überfluss zu geben, das er ihr vorgegaukelt hatte, eines düsteren Dezemberabends aufhängte –, war sie zum einen von einer unsagbaren Trauer und Verzweiflung überfallen worden, zum anderen von dem Bedürfnis, etwas Gutes in diesem Leben auszurichten. Was erschien da natürlicher, als sich eines der Unglückskinder der Gesellschaft anzunehmen, das sein jämmerliches Leben hinter Schloss und Riegel darben musste? Ganz und gar nichts. Gesagt, getan. Sie trat in den Verein »Rette deinen eigenen Häftling« ein und kam eines kalten Februarnachmittags mit frisch gebackenen Scones und Brombeermarmelade zu Maertens.
Sie heirateten in der Gefängniskapelle, sie planten eine gemeinsame Zukunft, und sie versuchten, ein Kind zu bekommen.
Ihre besten Jahre fielen in die Zeit, als er noch im Gefängnis saß. Als sie sich nur ein- oder zweimal in der Woche trafen und einander von den kleinen, anspruchslosen Ereignissen aus ihren so getrennten Welten, in denen sie lebten, berichten konnten. Ja, wie leicht und problemlos verhielt sich da alles zwischen ihnen. Wie unbeschwert.
Als er dann später entlassen wurde, als sie plötzlich in der gleichen Welt verkehren sollten, sogar unter dem gleichen Dach, stellte sich heraus, dass sie einander nicht mehr so viel zu sagen hatten. Eigentlich so gut wie gar nichts. Sie trennten sich nach zwei tapferen Jahren. Maertens zog in das kleine Haus in Pampas, das er von seinem mütterlichen Erbe kaufte. Birthe blieb in der Wohnung, und beide schöpften erleichtert tief Luft.
Nun befanden sie sich wieder auf sicherem Abstand. Die Beziehung konnte, wenn auch nicht aufblühen, so doch zumindest in aller Mäßigung wieder aufkeimen. Wie eine Pflanze, die zwar niemals Früchte tragen würde, aber doch soviel Nahrung bekam, dass sie sich am Leben hielt.
So verhielt es sich.
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