Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Schokoladenkuchens auf ihren Teller schob und sie von Koch Kostja – dem jungen Mann mit den blau gefärbten Haaren – nach ihren Essensvorlieben gefragt wurde, schwatzte die sommersprossige Marisabel pausenlos weiter. „Sie haben Glück, Minnie. So viele Bewohner wie heute sitzen selten beim Essen zusammen. Das liegt an der allgemeinen Aufregung, die das Klavierkonzert verursacht. Sie kommen doch auch?“ Anscheinend erwartete Minnies rothaarige Sitznachbarin keine Antwort, denn sie fuhr ohne Pause fort. „Am Vormittag bin ich immer die Erste bei Tisch. Dann hocke ich ganz allein hier. Ich hoffe, Sie sind auch eine Frühaufsteherin? Mich finden Sie hier ab 8.30 Uhr.“
Minnie nickte, und erntete ein gnädiges Lächeln. Doch Marisabel war noch nicht fertig. „Bestimmt fragen Sie sich, worunter die anderen leiden.“ Ihre Stimme wurde verschwörerisch. „Professor Pellenhorn ist an ALS erkrankt. Das ist dieselbe Nervenkrankheit, an der der berühmte Maler Jörg Immendorf starb. Bella Schiffer, unsere Schönheitskönigin, hat Leberkrebs. Dabei sieht sie aus wie das blühende Leben. Annette Müller kam vor sechs Wochen nach Haus Holle. Damals war sie noch ein Häufchen Elend. Inzwischen hat ihr Kostja ein paar Kilos auf die Rippen gezaubert. Schon erstaunlich, dass Annette trotz ihres aggressiven Speiseröhrenkrebses wieder richtig essen kann.“
Minnie staunte. „Und worunter leidet die krumme Frau im Rollstuhl, die von ihrer Mutter gepflegt wird?“
„Aids im Endstadium“, verriet ihr Marisabel. „Mit so was wird man ja sonst nie konfrontiert. Aber ist es nicht schrecklich?“ Ihre Stimme senkte sich um eine weitere Nuance, bis sie kaum noch zu hören war. „Sie soll sich Sachen gespritzt haben.“
Minnie erstaunte das kaum. Davon las man schließlich alle Tage. Instinktiv beschloss die alte Dame, sich mit Sonjas quirliger Mutter anzufreunden. Mutter Merkel hatte den lebendigsten Eindruck auf sie gemacht. Obendrein schien sie sehr pfiffig zu sein.
„Und Omi?
„Die macht ein riesiges Geheimnis aus ihrer Krankheit“, antwortete die sommersprossige Dame mit der Hundetasse. „Keiner weiß, worunter sie leidet.“
Minnie hatte noch eine weitere Frage auf Lager. „Ich habe gehört, dass zwölf Gäste in Haus Holle wohnen. Bei Tisch waren nur acht. Wo sind die anderen?“
„Pah“, entgegnete die Rothaarige. „Gäste – das ist so ein Ausdruck. Bestimmt hat uns Dr. Albers so genannt, stimmt’s? Aber Sie haben recht: Es gibt vier Bewohner, die fast nie zu den Mahlzeiten erscheinen. Zufälligerweise wohne ich auf derselben Etage wie diese Gäste . Deshalb weiß ich einiges über sie. Sie haben die Richtige gefragt.“
Interessiert schenkte Minnie ihrer auskunftsfreudigen Nachbarin ihr Gehör.
„Da ist erstens eine Mutter, ganz jung, so um die 35… Sie ist mit ihrem Kind einzogen. Wenn Sie mich fragen, ist Haus Holle ja nichts für ein Kleinkind. Oft verursacht die Kleine einen schrecklichen Lärm. Manchmal jagt sie die Katzen durch alle Etagen. Überhaupt… dass Katzen hier erlaubt sein sollen, wundert mich wirklich ungemein. Ich selbst habe es mehr mit Hunden.“ Sie wies auf ihre mit französischen Bulldoggen verzierte Tasse. „Als es mir noch besser ging, war ich eine bekannte Hundezüchterin.“
Geschickt lenkte Minnie Marisabels Redefluss zurück auf das ursprüngliche Thema. „Und die anderen Gäste?“
„Es gibt noch einen jungen Mann, der ans Bett gefesselt ist. Außerdem wohnen hier noch zwei Ehepaare. Das erste ist um die Sechzig, das zweite steinalt. Das uralte Paar kommt immer zum Essen, das jüngere sieht man niemals. Aber man kann ja schlecht an ihre Tür klopfen, um Hallo zu sagen, oder?“
Minnie stimmte Marisabel zu. „Warum wohnen hier Ehepaare?“
„Weil die Heimleitung ein zweites Bett in die Zimmer gestellt hat, damit der gesunde bei seinem kranken Partner schlafen kann. Ist das nicht bewundernswert? Die beiden Ehepaare sind Tag und Nacht zusammen.“ Für den Bruchteil einer Sekunde deutete Marisabel auf Annette und Angie. „Wenn man das lesbische Paar dazu zählt, haben wir sogar drei Ehepaare. Sind Sie nicht bezaubernd, die jungen Frauen? Angie weicht nicht von Annettes Seite. Ich fühle so sehr mit ihnen mit. So jung und schon…“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Die Hundezüchterin gab sich selbst einen Ruck. „Wie gesagt: Heute Abend findet ein Klavierkonzert statt. Solche Events gibt es hier häufig, auch wenn sie nicht alle Bewohner anlocken.
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