Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
schickte seine demenzkranke Frau zu mir. Irgendwie muss die an Alzheimer erkrankte Lisa Montrésor der falschen Person davon berichtet haben – wahrscheinlich dem Mörder. Später erzählte sie mir doch noch von Montrésors Beobachtung. Leider sagte sie zu spät aus. Inzwischen war Adolf das vierte Opfer des Mörders geworden.“
„Also hat eine der Personen, die anwesend war, als Herr Knopinski seine Drohung im Esszimmer ausstieß, die vier Menschen auf dem Gewissen?“, fragte die Stimme.
Minnie schüttelte den Kopf. „Nein! Anfangs ging ich ebenfalls davon aus. Leider jedoch geriet ich dadurch auf eine falsche Fährte. Zwar hatten alle anwesenden Gäste ein Motiv, um die Knopinskis zu töten, doch als Montrésor ermordet wurde, waren meine Verdächtigen fast alle tot. Außerdem hatte ich vorher eine Vision von Schneeflocken. Ich musste bloß in den Spiegel blicken. Dort würde ich den Mörder finden.“
„ Im Spiegel?“, fragte die Stimme.
„Ja“, bestätigte Minnie. „Im Spiegel wartete die Wahrheit – das verriet mir mein Unterbewusstsein während der Rückführung und während meines Tiefschlafes. Weil ich nicht wusste, was die Sache mit den Spiegeln bedeuten sollte, spielte ich die Situation im Esszimmer noch einmal nach. Ich setzte mich auf den Platz von Knopinski und stellte mir die Situation vor, in der wir uns befunden hatten, als er rief, dass er niemals ein Gesicht vergessen würde. Damals klebte sein Blick ausgerechnet auf mir. Weil ich aber wusste, dass Knopinski und ich uns in der Vergangenheit niemals begegnet waren, musste ich mich fragen, wen er wirklich gemeint hatte. Es musste etwas oder jemand gewesen sein, der sich damals in meiner Blickrichtung befunden hatte.“
„Was war es?“, fragte die Stimme.
„Ein Spiegel“, sagte Minnie trocken. „Oder besser gesagt: Ein Fenster hinter mir, in dem sich der Mörder gespiegelt hatte.“
„Interessant“, sagte die Stimme. „Wer hat sich denn im Fenster gespiegelt?“
„Du, Andreas“, antwortete Minnie. „Du standest in der Tür des Esszimmers, als Knopinski rief, dass er niemals ein Gesicht vergäße. Es war genau wie in Agatha Christies Roman Rendezvous mit einer Leiche . Gut, dass ich den gelesen habe. Deshalb hat mir mein Unbewusstes auch die ganzen Ratschläge gegeben.“
Ihr Gegenüber schwieg, und die alte Dame fuhr fort. „Zuerst fiel es mir schwer, zu akzeptieren, dass Du ein Serienmörder bist – schließlich hast Du mir so oft geholfen. Andererseits passte alles zusammen. Du bist der Einzige, bei dem alle Fäden zusammenlaufen, wenn man die Sache aus der Perspektive des Spiegels betrachtet. Du konntest die Aufruhr im Haus verursachen, weil Du Nadines Geheimnummer gekannt hast und Zugang zu allen Arzneien hattest. Wahrscheinlich hast Du Cristiano ermuntert, in der Mordnacht nach den Pflegern zu klingeln und sich zu öffnen. Du warst anwesend, als Berthold Pellenhorn ein Sprachcomputer verordnet wurde. Und Du wusstest, dass Nadine einer verlockenden Spritze mit Drogen nicht würde widerstehen können. Aus Frau Prinz’ Perspektive warst Du ein Engel, obwohl ich glaube, dass die Hundezüchterin noch einen zweiten Engel gesehen hat, der in Wirklichkeit ihr Seelenführer war. Dich hat Adolf Montrésor an Kostjas Speisen gesehen – und sich gewundert, was Du in der Küche gemacht hast. Du warst der Einzige, der immer anwesend war, wenn etwas Besonderes passierte. Es tut mir leid, aber Du bist überführt.“
„Das klingt ja sehr überzeugend“, sagte Andreas ernst. „Aber was soll mein Motiv für den Mord an Knopinski gewesen sein? Und was war mein fünfter Mord?“
„Dafür müssen wir die Uhr bis zu jenem Zeitpunkt zurückdrehen, als Du im Gefängnis gesessen hast. Als ich am Heiligabend unter der Treppe saß, bat ich Mike, Deine Biografie zu durchleuchten. Tatsächlich fand der junge Reporter etwas Wichtiges heraus. Vor vielen Jahren hattest Du einen Zwillingsbruder namens Andreas, der ein Psychologe war. Leider erkrankte Andreas an Krebs. Du hast ihm Sterbehilfe geleistet. Deshalb hast Du auch geweint, als Du Anne Powelz die rührende Geschichte von den Zwillingsbrüdern erzählt hast, die Du angeblich in Haus Holle betreut hast. Mike hat alle Artikel über den damaligen Schauprozess gefunden. Du hast Deinen Bruder getötet, bist dafür ins Gefängnis gewandert und wurdest dort von Knopinski bewacht. Nach Deiner Freilassung hattest Du nichts mehr – nichts außer dem Pass und den Diplomen Deines toten
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