Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
Vom Netzwerk:
Fruchtsaft auf die Kommode.
    Als er sich wieder umdrehte, war die Hundezüchterin still und leise gestorben.
    Auf ihren Lippen lag das bezauberndste Lächeln der Welt.

Die Wahrheit
     
     
    Minnie schlief seit Tagen. Sie war keine Sekunde allein. Nicht nur ihre Töchter leisteten ihr stets Gesellschaft, auch Mimi lag Tag und Nacht neben ihren Füßen. Die scheue Katze mit den Kuhflecken schnurrte im Schlaf. 
    Am Nachmittag des 31. Dezember erwachte die alte Dame gegen 15.30 Uhr.
    „Ich bin fertig mit dem Nachdenken“, sagte sie und blickte aus dem Fenster. Draußen herrschte ein wildes Schneetreiben, außerdem explodierten bereits die ersten Silvesterböller. Das neue Jahr scharrte mit den Hufen. Zwischen weiße Schneeflocken mischten sich Funken von roten Leuchtraketen.
    Im Zwielicht sah sie Clara und Ute. Ihre Töchter eilten an ihr Bett.
    „Endlich bist Du wach, Mutter! Wir haben uns solche Sorgen um Dich gemacht. Du hast sooo tief und fest geschlafen! Wir dachten, Du würdest nie mehr erwachen.“
    Minnie atmete tief ein. „Mutter ist hier“, sage die weißhaarige Dame. „Bitte fahrt jetzt ins Hotel. Ich möchte schlafend ins neue Jahr rutschen. Ich bin wirklich sehr, sehr müde.“
    „Auf keinen Fall, Mama!“ Ihre Töchter wirkten entsetzt. „Wir konnten so lange nicht mit Dir reden. Wir haben tausend Fragen.“
    „Ich bin nicht allein“, antwortete Minnie. „Und ich habe keine Angst. Meine Furcht ist verflogen. Bitte geht jetzt, meine lieben, kleinen Mädchen.“
    „Aber wenn Dir etwas passiert?“
    „Was kann mir schon zustoßen?“ Minnie wirkte völlig befreit.
    „Im Schlaf hast Du manchmal so komische Sachen gemurmelt“, meinte Ute nachdenklich. „Von Spiegeln und Flocken und Menschen und Katzen. Wir sorgen uns so sehr!“
    Die alte Dame stellte das Kopfteil ihres Bettes hoch, und e rgriff die Hände ihrer Töchter. „Hört mir mal gut zu“, sagte sie eindringlich. „Wenn man an dem Punkt in seinem Leben angekommen ist, an dem ich mich befinde, ordnet man sein ganzes Leben neu. Ich habe so viel erkannt. Jetzt bin ich mit allem ins Reine gekommen. Hinter mir liegt ein langer, langer Weg. Ich fühle mich unendlich geborgen.“
    Clara konnte das nicht glauben. „Aber ist es nicht schrecklich, allein in einem Bett zu liegen und damit rechnen zu müssen, dass der Tod kommt?“
    „Am Anfang war es wirklich so“, gestand Minnie. „Man legt sich unter ein weißes Laken und fürchtet sich ständig davor, dass einen ein entsetzlicher Schlag trifft. Man ängstigt sich vor jedem Einschlafen. Irgendwann jedoch wird einem klar, dass man ein gutes Leben geführt hat – und man fragt sich, warum etwas Gutes ausgerechnet von etwas ewig Schlechtem abgelöst werden soll. Man erkennt, dass das keinen Sinn macht. Man vertraut plötzlich wieder, dass auch weiterhin alles gut sein wird. Ich spüre, dass ich nicht allein bin.“
    Minnie sah, dass Hans in der Tür stand. Statt seines Kittels trug er einen Schlafanzug. Er hatte sich bereits umgezogen, und war bettfertig. Die alte Dame blinzelte ihrem Seelenführer zu, und richtete das Wort an Ute: „Ich möchte, dass Du jetzt eine schöne Stimmung zauberst. Bitte lege Tutto Verdi in den DVD-Player und gib mir das Foto von Deinem Vater.“
    „Das klingt so nach Abschied, Mama!“
    Ute weinte. Clara jedoch hatte die DVD bereits eingelegt. Die erste Arie aus Nabucco erklang und das Zimmer verwandelte sich in eine Winterwelt aus hohen, intensiven Klängen. Alles wurde zu Musik.
    Ute schnäuzte in ein Taschentuch. „Sehen wir uns morgen wieder, Mama? Können wir Dir dann Fragen stellen?“
    „Natürlich“, erwiderte Minnie. „Wir drei sind unzertrennlich. Das ist kein leeres Versprechen. Ich weiß, dass wir uns wieder sehen. Daran müsst Ihr immer glauben!“
    Hans stand vor dem Fußende ihres Bettes. Er hatte alle Zeit der Welt.
    Clara beugte sich über das Bett ihrer Mutter, legte beide Hände auf Minnies Wangen und küsste sie auf den Mund. „Gute Nacht, Mama! Bis morgen!“
    „Gute Nacht, mein Mädchen“, sagte Minnie. „Ich liebe Dich.“
    Ute fiel der Abschied schwerer. „Darf ich mich noch für einen Moment zu Dir ins Bett legen und Dich in die Arme nehmen, Mama?“
    „Natürlich, mein Kind.“
    Ihr Mädchen kroch unter Minnies Laken, Mutter und Tochter legten Stirn und Nase aneinander. Die Nähe hätte nicht größer sein können. Minnie hielt den bebenden Körper ihrer Tochter so lange fest, bis Utes Zittern allmählich verebbte und von

Weitere Kostenlose Bücher