Die Flüchtende
den Kopf schräg.
«Sind die übrigens nicht umgebracht worden? Von dieser Sibylla?»
Sie antwortete nicht und sein Lächeln wurde noch breiter.
« Nur damit wir wissen, was wir voneinander zu halten haben.»
Sie steckte den Zettel in die Tasche. Er konnte ihr nicht drohen, darum hatte sie auch keine Angst. Wenn er sie verpfiffe, wäre er mit dran, und das wussten sie beide.
Sie sah ihn an. So viele Muskeln und so viel Hirn.
Sie ging die paar Schritte und legte die Hand auf die Klinke, hielt aber dann inne.
«Hast du nie daran gedacht, einen richtigen Job anzunehmen? Du scheinst die idealen Voraussetzungen dafür zu haben.»
Er lehnte am Türpfosten zum Zimmer und hatte die prallen Arme vor der Brust verschränkt.
«Nein», antwortete er und grinste. «Du?» Sie sagte nichts mehr, bevor sie ging.
Thomas Sandberg.
Das war alles, was auf dem Zettel stand, den sie Patrik zeigte. Sie waren unten auf der Straße und er las den Namen wieder und wieder, so als ob da eine lange Geschichte und nicht nur vierzehn Buchstaben stünden.
« Hast du keine Adresse gekriegt?»
«Nein.»
Er schaute enttäuscht drein. Sie sah ihm an, dass er das Ergebnis für einen Preis von viertausend Kronen zu mager fand.
«Wie viele Thomas Sandberg mag es in Schweden geben?»
Sie zuckte die Schultern.
« Keine Ahnung, aber wir wissen jetzt immerhin, dass es einen weniger gibt. Komm jetzt.»
Sie ging ein paar Schritte. Das, was sie vorhatte, war richtig, da war sie sich sicher. Trotzdem machte ihr die Distanz zu schaffen, die dadurch so unerbittlich zwischen ihnen entstand. Wenn sie ihm nicht in die Augen sehen musste, war es wahrscheinlich besser.
«Was machen wir jetzt?», fragte er, als er sie eingeholt hatte.
Im selben Moment ging der Alarm an seiner Armbanduhr los.
«O Manno. Sonntagsessen.»
Er stellte das Signal ab.
« Meine Mutter hat mich gezwungen, die Uhr zu stellen. Sie wird wahnsinnig, wenn ich nicht komme.»
« Dann solltest du auch kommen, finde ich.»
«Willst du so lange auf den Dachboden gehen?»
Sie antwortete nicht.
«Willst du?», fragte er noch einmal.
«Es ist vielleicht das Beste.»
Das war nicht einmal gelogen. Es wäre sicherlich das Beste, wenn sie sich weiterhin auf Patriks Dachboden versteckte und sich von ihm mit den Resten vom Familientisch durchfuttern ließe.
Aber dazu war es jetzt zu spät.
Irgendwo gab es einen Menschen, der das unwahrscheinliche Glück gehabt hatte, dass sich in jener Nacht im Grand Hotel ausgerechnet sein und ihr Weg gekreuzt hatten. Jemand, der für seine persönliche Rache ihren Namen gestohlen und sich ihres Außenseitertums bedient hatte.
Das wollte sie nicht zulassen.
Diesem Unbekannten wäre es beinahe gelungen, sie kleinzukriegen, aber eben nur beinahe.
Als die schwere Eisentür zum Dachboden hinter ihr zugeschlagen war und sie Patriks Schritte die Treppen hinunter verschwinden hörte, zog sie das andere A-4-Blatt aus der Tasche und las.
Rune Hedlund, 46 06 08-2498, Vimmerby.
Der Friedhof war groß und sie brauchte eine Stunde, um den Stein zu finden. Sie entdeckte ihn im Urnenhain, einen runden Naturstein mit goldener Inschrift. RUNE HEDLUND * 8. Juni 1946 115. März 1998
Darunter war Platz für einen weiteren Namen. In einem weißen Plastikbecher brannte ein Licht, und rings um den Stein wuchsen lila und gelbe Krokusse.
Der Frühling war hier unten schon weiter. Sie ging in die Hocke. Zwischen den Blumen hing noch etwas Herbstlaub, sie entfernte es und warf es beiseite.
«Was machen Sie da?»
Das kam so unerwartet, dass Sibylla das Gleichgewicht verlor und sich auf den Allerwertesten setzte. Rasch war sie wieder auf den Beinen und drehte sich um. Hinter ihr hatte sich eine Frau herangeschlichen. Sibylla fühlte das Herz in der Brust schlagen.
«Ich habe nur etwas Laub entfernt.»
Sie maßen sich mit Blicken, wie zwei Feinde über die Kampflinie hinweg. Die Frau mit vor Misstrauen und Abscheu glänzenden Augen und Sibylla mit der plötzlichen Gewissheit, die gesuchte Person gefunden zu haben.
So standen sie da und keine von ihnen sagte etwas.
Die fremde Frau war unter dem Mantel weiß gekleidet, und in der Hand hielt sie eine grüne trichterförmige Vase mit Tulpen.
«Lassen Sie gefälligst das Grab meines Mannes in Ruhe», sagte sie schließlich.
Das war sie also. Rune Hedlunds Witwe.
«Ich habe nur etwas Laub entfernt.»
Die Frau atmete ein paar Mal tief durch die Nase ein, so als ob sie sich sammeln wollte.
«Wie gut kannten Sie meinen
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