Die Flüchtende
vier.
Auch wenn gemäß Paragraph drei, Absatz zwei biologisches Material entnommen werden darf ist es nicht zulässig, den Eingriff vorzunehmen, sofern sich eine der!dem Verstorbenen nahe stehende Person diesem widersetzt. Gibt es Personen, die der!dem Verstorbenen nahe gestanden haben, so darf der Eingriff erst vorgenommen werden, nachdem jemand aus diesem Personenkreis über den geplanten Eingriff und das Recht, diesen zu untersagen, unterrichtet wurde. Der unterrichteten Person muss eine angemessene Frist eingeräumt werden, zu dem Eingriff Stellung zu nehmen.
Sie las diesen Absatz noch einmal und ließ dann langsam die Blätter sinken. Sie stand auf. Blieb still stehen und ließ den Gedanken Gestalt annehmen.
Sie konnte es am ganzen Leibe spüren.
Wehe dem, der den Unschuldigen seines Rechtes beraubt.
«Patrik!»
«Mmm.»
«Ich hab's.»
Sie hörte es auf der anderen Seite der Bretterwand rascheln, und im nächsten Augenblick stand er in der Tür.
«Was denn? Woher weißt du das?»
Doch sie war sich sicher.
«Es ist jemand, der es sich anders überlegt hat.»
Wie sie es selbst vor langer Zeit gern getan hätte, aber nicht hatte tun dürfen.
Wehe dem, der den Unschuldigen seines Rechtes beraubt.
Zu leben.
Oder zu sterben.
«Oder es ist jemand, den man überhaupt nicht gefragt hat.»
Patrik war wieder zu seinem Computer hinuntergegangen. Sibylla wanderte ungeduldig den Dachbodenflur auf und ab, um die Zeit zu vertreiben.
Der Organspender muss unmittelbar vor dem fünfzehnten März neunzehnhundertachtundneunzig gestorben sein. Aber wer war er? Oder sie?
Wenn es in dieser geheimen Welt, zu der Patrik durch seinen Computer Zugang hatte, ein Register gab, dann würde er es finden. Dessen war sie sich sicher. Und warum sollte es das nicht geben? Es gab doch sonst alles.
Wenn er nur seiner Mutter nichts erzählte! Sie hatte es ihm ausdrücklich verboten, lieber blieb sie die Hauptverdächtige. Sie war jetzt fest entschlossen, diesen Fall selbst zu lösen.
Ob die Polizei auf derselben Spur war? Aber warum denn? Die hatten ihre Mörderin doch bereits.
Als Patrik endlich zurückkam, brachte er keine guten Nachrichten. Es gab kein öffentlich zugängliches Register, aus dem man ersehen konnte, wer gestorben war. Nur eine allgemeine Statistik über die Anzahl der Verstorbenen im ganzen Jahr. Es waren 93 271 Personen, und dies zu wissen half ihnen kaum weiter.
«Ich habe sowohl die Einwohnermeldebehörde als auch das Statistische Zentralamt durchgecheckt. Es gibt nichts. Man braucht eine Genehmigung vom Datenschutz.»
In seiner Enttäuschung sah er so jung aus. Sibylla sah ihn an und musste unwillkürlich lächeln.
« Bist du für deine fünfzehn Jahre nicht ungewöhnlich smart?»
«Ach was.»
Er wandte sich ab, aber sie hatte es schon bemerkt. Er war rot geworden.
Sie schwiegen eine Weile.
Es war gar nicht so leicht, auf einem Dachboden versteckt Mörder zu suchen.
«Verdammt!», sagte sie schließlich. «Wir müssten ins Organspendenregister reinkommen.»
«Was ist das?»
Sie wusste mehr als er. Auch wenn ihre Kenntnisse noch ganz frisch waren, ließ dieses Gefühl sie insgeheim lächeln. Sie war nicht so dumm, wie er womöglich angenommen hatte. Kein armes Hascherl, das er mit seinem Heldenmut erretten müsste. Sie war mehr als doppelt so alt wie er, und das sollte er, wenn es nach ihr ging, niemals vergessen.
Sie ging zu ihrem Sessel und war gleich darauf mit dem Stapel Papier, den sie durchgelesen hatte, zurück. Sie blätterte ein bisschen, bis sie schließlich fand, was sie suchte.
«In den Blättern der Sozialbehörde stand etwas darüber. Informationen über Organspenden.»
Sie las vor:
«Frage: Können Unbefugte Zugang zu Angaben im Register bekommen? Antwort: Es ist strafbar, als Unbefugter in das Personenregister einzudringen. Die Arbeiten am Register unterliegen hohen Sicherheitsauflagen. Nur eine geringe Anzahl Personen ist befugt, das Register einzusehen. Die Befugnis ist personengebunden und nicht übertragbar.»
Sie ließ das Blatt über die Schulter segeln.
«So viel dazu.»
Er betrachtete sie eine Weile.
«Wie viel ist es dir wert zu wissen, was in diesem Register steht?»
«Viel.»
« Mehrere tausend?»
Sie zögerte etwas. Mehrere tausend. Ein halbes Schlafzimmer.
«Wieso?»
«Ich kenne einen, der da reinkommt und nachgucken kann. Aber ich habe gehört, dass er sich ordentlich dafür bezahlen lässt.»
«Wie gut kennst du ihn?»
«Gar nicht, aber sein kleiner
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