Die Flüchtlinge
glaube schon. Aber ich bin müde.“
„Ich weiß. Komm, laß mich das jetzt mal machen. Könntest du einmal in die Lageretage hinaufgehen und nachsehen, ob wir noch Decken und irgend etwas haben, was wir hier unten brauchen?“
Quilla brachte ein Lächeln zustande. „Sicher. Im dritten Stock? Ist dort oben jemand?“
„Nein. Bring die Sachen zum Tor hinunter. Die Leute können sich dann selbst darum kümmern.“
Quilla gab ihrer Mutter den Schöpflöffel und machte sich auf den Weg. Wie zuvor ihr Bruder, der in der Finsternis des Stallgebäudes untergetaucht war, würde sie, wie Mish wußte, einem Labyrinth aus Strickleitern und Baikonen folgen und in dem stillen Dunkel ein wenig Entspannung finden. Mish füllte die Schalen der Hungrigen, bis der Kessel leer war, dann sah sie auf. Ein hohlwangiger, entschlossen aussehender Mann stand vor ihr und hielt ihr sein Eßgeschirr unter die Nase.
„Ich möchte noch etwas“, sagte er grob. „Das bißchen, das ich bekommen habe, war nicht genug.“
„Morgen wird es mehr geben. Wir haben kein Fleisch mehr.“
„Aber ich will jetzt noch was. Ich habe immer noch Hunger.“
Eine Hand legte sich auf die Schulter des Mannes. „Wir sind alle noch hungrig, Gren, aber wir müssen es aushalten. Beruhige dich.“
Mish sah den Sprecher an. Es war ein grauäugiger, junger Mann. In seinem Gürtel steckte eine Flöte. Blaßgelbes Haar umrahmte sein schmutziges Gesicht. Seine Kleider waren nur noch Fetzen, und er hatte nackte Füße. So fremdartig er auch auf Mish wirkte: Er lächelte ihr müde zu und zog Gren am Arm. Mish fühlte sich dem jungen Mann verbunden; gleichzeitig verspürte sie ein Gefühl der Erleichterung.
„Na, komm schon, alter Vielfraß“, sagte der junge Mann. „Du hast doch eine Portion bekommen.“
„Er hat sogar zwei bekommen“, sagte ein Kind wichtigtuerisch.
Gren riß sich los, warf seine Schale auf den Boden und verschwand in der Menge. Der junge Mann hob das Geschirr auf.
„Tut mir leid wegen Grens Benehmen. Aber er hat auf Neuheim seine Familie verloren, und das hat ihn nur noch schlimmer gemacht.“
„Es ist schon in Ordnung.“ Mish nahm die Schale an, hielt sie einen Moment in der Hand und legte sie dann in den leeren Kessel. Da sie sonst nicht wußte, was sie sagen sollte, meinte sie: „Ich bin Mish Kennerin.“
„Ich weiß. Ich heiße Tabor Grif.“ Er lächelte sie an, bis sie zurücklächelte und sich ihre Schultern entspannten.
„Ich glaube, wir sind alle ein wenig gereizt. So viele Gäste haben wir nämlich nicht erwartet!“
Tabor zucke die Achseln. Sein ebenmäßiges, blasses Gesicht verdunkelte sich für einen Augenblick, und er berührte seine Flöte. „Ihr Gatte ist ein bemerkenswerter Mensch. Wir wären in den Lagern umgekommen. Viele von uns waren bereits gestorben.“ Er deutete auf den Stall, die Menschen, den Kessel und Mish. „Ich kann es immer noch nicht glauben, daß wir jetzt hier sind. Daß wir leben. Daß wir gegessen haben. Daß sie uns weder morgen noch übermorgen, noch am darauffolgenden Tag verfolgen werden.“
Mish berührte seinen Arm.
„War es so schlimm?“
„Fragen Sie Jason.“ Er lächelte erneut. „Aber jetzt sind wir hier. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich die leeren Schalen einsammle und in den Kessel lege? Würde Ihnen das helfen?“
„Ja.“ Mish bemerkte, daß ihre Hand immer noch auf seinem Arm ruhte. Sie machte schweigend einen Schritt zurück und sah zu, wie er sich umwandte und die Ecken abzusuchen begann. Sie ließ den Kessel links liegen.
Nur noch wenige der Flüchtlinge waren auf den Beinen, und die Geräusche, die sie erzeugten, verklangen in zunehmendem Maße, je mehr von ihnen für sich und ihre Habseligkeiten ein Plätzchen gefunden und sich zum Schlafen niedergelegt hatten. Mish ging durch den Stall und hielt nach Jason Ausschau.
Sie fand ihn schließlich, als er dabei war, mehr Heu in die Schlafecken zu schaffen. Mish blieb schweigend stehen und musterte das Spiel seiner Muskeln unter dem dünnen Anzug. Abgesehen von der kurzen Umarmung am Landeplatz hatten sie sich während des langen Abends kaum gesehen oder gesprochen. Jason streckte einen Arm aus, packte einen Heuhaufen, wandte sich mit ihm um, legte ihn nieder, hob den anderen Arm und rief etwas. Das Stallgebäude löste sich in Nichts auf, bis er sich in Mishs Vision nur noch vor einem Hintergrund aus Dunkelheit und Lichtern befand. Als er ihr das Gesicht zuwandte, schenkte sie ihm einen dermaßen intensiven
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