Wie Tyler Wilkie mein Leben auf den Kopf stellt und was ich dagegen tun werde: Roman (German Edition)
Der erste Herbst
Tag null: der Beginn meiner Entwirrung
(Entwirrung – gibt es dieses Wort überhaupt?)
Als Tyler Wilkie mich zum ersten Mal sah, war ich gestylt wie ein Callgirl.
Rein zufällig lautete meine Kleidungsstrategie an diesem Tag: Dekolleté. Große Geschütze. Oder besser, in meinem Fall, die mittleren, B-in-Richtung-C-Körbchen. Am Tag zuvor, anlässlich des Treffens mit den Lehrmittel-Lobbyisten aus Texas, hatte ich mich nämlich wie eine mennonitische Bibliothekarin angezogen und einfach nur stumm und starr daneben gesessen, als unsere Phantasie von der geballten Ignoranz der Texaner k.o. geschlagen wurde.
Forbes und Delilah Webber fanden meine Bluse mit dem Peter-Pan-Kragen entzückend. Sie nannten mich »die süße Kleine« und »reizend«. Sie versprachen, eine Empfehlung für unser Lehrbuch Gesunde Jugend auszusprechen, wenn wir:
jegliche Informationen im Zusammenhang mit Kondomen streichen würden und
das Wort Vorstellung in Annahme umänderten. Vorstellung erinnere sie zu sehr an Theater, was »gewisse Leute verärgern« könne.
Außerdem baten sie uns, ihnen Musicalkarten für König der Löwen zu besorgen, im Parkett, versteht sich.
Nach dem Treffen bekniete ich meinen Chef, den Webbers abzusagen, doch mein Lektorenkollege Ed, die falsche Schlange, der zufällig aus Texas stammte, kapitulierte und bot an, die Änderungen vorzunehmen. Nicht ohne mich daran zu erinnern, dass wir Texas und dessen Bücherbudget von vierhundert Millionen Dollar keinesfalls vergraulen dürften.
Nun war ein weiteres Treffen mit den Webbers geplant, um ihnen die Korrekturen zu zeigen. Wie sollte ich mich bloß dagegen wehren, von dieser Art verkappter Zensur wie von einer Dampfwalze überrollt zu werden? Die ganze Nacht hatte ich mir den Kopf zermartert. Mir war klar: Ich stand auf verlorenem Posten. Doch ich war entschlossen, dass die »süße Kleine« wenigstens hocherhobenen Hauptes untergehen würde. Ich würde Selbstvertrauen und Stärke ausstrahlen. Wehrhaftigkeit. Sex. Eine grausame Domina auf haushohen Absätzen.
Also so was von überhaupt nicht ich.
Ich entschied mich für das schwarze Nadelstreifenkostüm, das mir meine Mutter vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Ich hatte es genau einmal getragen: zu einer Beerdigung. Nur dass ich dieses Mal den Rock in der Taille um einige Zentimeter höher zog und einen Push-up-BH trug. Ganz hinten in der Schublade fand ich eine fast schon antike Nylonstrumpfhose. Dann quetschte ich mich in die schwarzen Zehn-Zentimeter-Absatz-Pumps, die ich passend zu dem Kostüm im Schlussverkauf bei Lord & Taylor erstanden hatte, schlang meine Haare zu einem tiefen, strengen Knoten und legte Wimperntusche und Lippenstift auf. Roten.
Ich schlüpfte in meinen Regenmantel und bewaffnete mich mit Regenschirm, Laptop und der zehn Kilo schweren, grünen Leder-Umhängetasche, die ich liebevoll die »Große Grüne« nannte. Sie enthielt alles, was ich möglicherweise (oder auch nicht) brauchen könnte, darunter:
Schlüssel
Portemonnaie
Handy
Taschenkalender
Lipgloss
Haarbürste
Haarband
große Haarspange
Papiertaschentücher
Buch (Lolita, zufälligerweise)
iPod
Wasser
Tüte mit ungerösteten Cashew-Kernen
Schokoriegel mit siebzig Prozent Kakaoanteil
Apfel
schwarzer Kuli
Rotstift
schwarzer Edding
rote Strickjacke
kitschiges Vinyltäschchen mit niedlichem Kätzchenfoto, bestückt mit:
Pflastern in verschiedenen Größen
einer kleinen Tube antibiotischer Salbe
Antiallergie- und Durchfallmedikamenten
Paracetamol
Paracetamol mit Koffein
Paracetamol mit Codein
Ibuprofen
Nagelfeile
Tampons
Wasserlilienöl
Handlotion
Deo in Reisegröße
sowie:
ein Teelicht und Streichhölzer
eine Mini-Taschenlampe
Nähset mit Faltscherchen, Nadel und schwarzem Garn
einige Beutel Ingwertee
Ohropax
Taschenbuchausgabe der Strunk & White-Grammatik (kann ich auswendig, aber angenommen, ich bin mal müde und unkonzentriert?)
Ach ja, und noch etwas: den silbernen Schutzengel, den Ed mir einmal geschenkt hatte, trug ich ebenfalls tief verborgen in einem Riss im Taschenfutter mit mir.
Derart aufgemacht und für alle Eventualitäten gerüstet, stieg ich die drei Stockwerke zur Lobby hinunter.
Hundebellen.
Als ich um den letzten Treppenabsatz bog, sah ich sie – die preisgekrönten Riesenschnauzer von Sylvia, meiner Nachbarin, die im Flur gegenüber wohnt. Sie zerrten an einem jungen Mann, der auf den unteren Treppenstufen saß, die strass-besetzten
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