Die Flüchtlinge
1
Der Stall stand am Rande der ebenen Wiese, wandte seine Front den ausgedehnten, reichhaltigen Feldern und die Rückseite dem Hügel, dem Haus und dem Landeplatz zu. Es war ein langgezogenes Gebäude von ziemlicher Breite, das an beiden Enden große Tore aufwies und über ein Dach verfügte, das zu den Rändern hin abgeflacht war. Tagsüber, wenn die aus flexiblen Solarzellen bestehenden Wände und das Dach Licht aufsaugten, verdunkelte er sich; in der Nacht reflektierte er mit einem sanften Glühen den Schein einer Million Sterne. Im Inneren des Stalls erhoben sich über dem tiefliegenden Hauptgang mehrere Obergeschosse und Balkone, die man über Strickleitern erreichen konnte. An anderen Tagen tollten und kletterten dort die drei Kennerin-Kinder herum und spielten ihre verzwickten, sorgfältig ausgetüftelten Spiele. Mish Kennerin hatte ihre winzigen, hellen Gestalten oft genug durch die dunklen Teile des Stalles hin und her jagen gesehen, aber sie waren meist so weit von ihr entfernt, daß der Klang ihrer Stimmen und das Trappeln ihrer Füße in der stillen Luft nicht mehr als einem kaum wahrnehmbaren Rascheln gleichkam. Bei solchen Gelegenheiten legte Mish beinahe atemlos eine Pause ein, und ihre üblichen Vorbehalte gegen das riesenhafte Gebäude verwandelten sich in ein verwirrendes Gefühl des Verlusts und den Eindruck, daß der Stall eine finstere Magie ausströmte, die ihre Kinder – langsam, aber sicher – von ihr entfremdete. Bevor sie sich dann abwandte, blinzelte sie beunruhigt und aus dem Konzept gebracht in das Zwielicht und vergaß manchmal sogar, weshalb und weswegen sie überhaupt hierhergekommen war. Dann blieb sie, gefangen an der Grenze von Licht und Dunkelheit, auf der Schwelle des monströsen Toreingangs stehen.
Selbst jetzt schien der Stall die Menge der Flüchtlinge zu verschlucken, in abgegrenzte Ecken zu locken und mit seinen überdimensionalen Abmessungen Finsternis und Stille zu erzeugen. Mish stand im dritten Stock und am Rande eines Balkons, hatte die Arme voller Decken und schaute auf den hellen Lichtstreifen hinab. Was wie ein Chaos wirkte, war in Wirklichkeit eine beinahe formlose Ordnung. Die Flüchtlinge stellten sich an, um ihre Fleisch- und Brot-Portionen in Empfang zu nehmen, die Quilla und Jes mit Schöpflöffeln aus dem dampfenden Kessel und den großen, mit Tüchern bedeckten Körben zu Tage brachten. Die wenigen Schüsseln und Teller waren rasch geleert und wurden dann an jene weitergegeben, die als nächste an der Reihe waren. Rufende Kinder quirlten durch die Menge, Erwachsene riefen sie zur Ordnung, Säuglinge wimmerten. Mish hatte den Eindruck, als würde der unter ihr liegende Stallboden in einem Übermaß an Gefühlsaufwallungen und einer Welle der Erleichterung kochen. Sie erinnerte sich an ihre viele Jahre zurückliegende und Lichtjahre entfernte Landung auf Terra, wie sie aus dem übervölkerten Schiffsleib in einen Winter hinausgestolpert war, der nur aus Inspektoren und hartgesichtigen Wachen bestanden hatte, die sie wie eine Viehherde schweigend durch Kontrollstellen geschleust und ohne Erklärung getrennt, den Arbeitsgruppen der Altacostas, Karlows oder Kennerins zugeteilt hatten. Aber dieser Gedanke hob weder ihre Stimmung, noch unterdrückte er das Gefühl des Unheils. Es waren einfach zu viele – zu viele Arme, Beine, Münder und Füße. Es waren so viele neue und unbekannte Seelen, daß sie unweigerlich fröstelte, bevor sie mit dem Deckenstapel auf der Schulter und einem kleinen Stirnrunzeln die Strickleiter hinunterkletterte.
Es waren mehr als zweihundert, die sich mit Pendlerschiffen auf eine für sie fremdartige Welt begeben hatten. Jason Kennerin hatte sie einer Welt entrissen, die plötzlich verrückt spielte und bald sterben würde. Sie hatten ein paar Siebensachen zusammengerafft und besaßen kaum mehr als das, was sie an den Leibern trugen und ihre Erinnerung an Verfolgungen und Schnee. Ihre Welt lag im Sterben, ihre Führer hatten – dem Wahnsinn nahe – aufgegeben. Soviel wußte Mish; sie hatte es erfahren, als Jason das silberne Pendlerschiff Kapitän Hetchs verlassen hatte und ausgezogen war, um die zu retten, die er retten konnte, damit wenigstens eine Familie eine Geste der Hilfe machte. Sie hatten höchstens fünfzig – allerhöchstens sechzig Menschen erwartet; ein Pendlerschiff voller Flüchtlinge und den Überschuß eines Winters an Nahrung und Kleidung, mehr nicht. Aber was am wichtigsten war: fünfzig neue Gesichter,
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